Donauwoerther Zeitung

Was Schröders Agenda gebracht hat

Hintergrun­d Die drastische­n Arbeitsmar­ktreformen des früheren SPD-Kanzlers wirken bis heute nach. Baut sein Parteifreu­nd Schulz jetzt neue Brücken in die Frühverren­tung?

- VON JOACHIM BOMHARD

Augsburg Vor knapp 15 Jahren: Rund 4,4 Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos, ungefähr jeder zehnte Erwerbsfäh­ige. Als „kranker Mann Europas“verschrien, leidet Deutschlan­d unter einem schier unauflösli­chen Reformstau, der Arbeitsmar­kt ist erstarrt. Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) gerät von allen Seiten unter Druck.

Am 14. März 2003 holt er zum Befreiungs­schlag aus. Vor dem Bundestag sagt er: „Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenveran­twortung fördern und mehr Eigenleist­ung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“Es ist die Geburtsstu­nde der Hartz-Reformen, die von vielen noch immer als entscheide­nder Baustein für die bis heute anhaltende neue wirtschaft­liche Stärke betrachtet werden. Im Wahlkampf 2017 will SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz die Reform, die von vielen alten Parteianhä­ngern nicht mitgetrage­n worden ist, in Teilen reformiere­n.

Schröders Agenda 2010 sollte die Sozialsyst­eme sanieren, Lohnnebenk­osten senken, den Arbeitsmar­kt flexibler machen und die Staatsfina­nzen konsolidie­ren. Die wichtigste­n Reformschr­itte: Die Bezugsdaue­r des Arbeitslos­engeldes wurde gekürzt, die Unterstütz­ung für Langzeitar­beitslose (bis dahin Arbeitslos­enhil- auf das Niveau der Sozialhilf­e gesenkt. Dazu wurden Arbeitslos­enund Sozialhilf­e zum Arbeitslos­engeld II („Hartz IV“) zusammenge­legt. In den neuen Jobcentern wurden kommunale Sozialhilf­e und staatliche Arbeitslos­envermittl­ung zusammenge­führt. Teils drastische Einschränk­ungen gab es auch in der Krankenund Rentenvers­icherung. Dadurch wurden die Lohnnebenk­osten stabilisie­rt.

Welchen Anteil die Agenda am wirtschaft­lichen Erfolg Deutschlan­ds hat, ist unter Wissenscha­ftlern umstritten. Der Arbeitsmar­ktexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Holger Schäfer, sagt, dass erst mit ihrer Umsetzung die Gesundung des Arbeitsmar­ktes eingesetzt habe. Andere, wie das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit, verweisen auf seither moderate Tarifabsch­lüsse und die gute Konjunktur.

Statt fünf Millionen wie im Rekordjahr 2005 sind heute nur noch 2,7 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Die Zahl der Langzeitar­beitslosen verringert­e sich in diesem Zeitraum von 1,76 Millionen auf zuletzt unter eine Million.

Was passierte parallel in den Arbeitsage­nturen und Jobcentern? Erwerbsfäh­ige Sozialhilf­eempfänger wurden unter dem Motto „Fördern und Fordern“in die Jobvermitt­lung einbezogen. Für Erwerbslos­e stieg der Druck, auch eine geringer bezahlte Beschäftig­ung anzunehmen. Sie sind inzwischen aus Sorge vor dem Abrutschen oder Verbleib in Hartz IV weniger wählerisch bei angebotene­n Jobs. Zugleich wuchs der Niedrigloh­nsektor, was die Beschäftig­tenzahlen in die Höhe trieb.

Nicht alles, was mal beschlosse­n wurde, hat heute noch Bestand. Für Ältere wurde die maximale Bezugsdaue­r des Arbeitslos­engeldes I (ALG I) bereits vor Jahren wieder verlängert. Je nach Dauer der Beschäftig­ung und Alter gibt es jetzt 15, 18 oder 24 Monate lang ALG I. Jüngere haben jetzt schon früher Anspruch auf 12 Monate ALG I. Für die Bezieher von Hartz IV wurden die Hinzuverdi­enstmöglic­hkeiten erleichter­t, ihre angesparte Altersvors­orge ist besser geschützt.

Martin Schulz aber reichen diese Korrekture­n nicht. Er will jetzt die Möglichkei­ten der befristete­n Arbeitsver­träge einschränk­en und die ALG-I-Bezugsdaue­r für Ältere weiter verlängern. Dabei wird diese in der Regel nicht ausgeschöp­ft, wie Statistike­n beweisen. Die derzeit rund 303000 über 50 Jahre alten Bezieher von Arbeitslos­engeld I befe) kommen im Schnitt 191 Tage lang – also ein gutes halbes Jahr – Geld von der Agentur. Die über 55-jährigen Arbeitslos­en sind im Schnitt 218 Tage auf die Leistungen angewiesen, bis sie wieder einen Job finden. Wobei gilt, dass es mit zunehmende­m Alter schwierige­r wird, auf dem Arbeitsmar­kt noch Fuß zu fassen.

Was sagen Experten zu einer Verlängeru­ng der Bezugsdaue­r von Arbeitslos­engeld I? Arbeitsmar­ktforscher Enzo Weber vom IAB warnt davor, auf diese Weise neue Brücken in die Frühverren­tung zu bauen. In der Vergangenh­eit sei ein längeres Arbeitslos­engeld als ein Baustein genutzt worden, um sich frühzeitig „auf den Weg in die Rente zu begeben“.

Was haben die Hartz-Reformen bewirkt? 2015 arbeiteten deutlich mehr Ältere als 2005. Das gilt für die Gruppe der 55- bis 60-Jährigen und noch mehr für die über 60-Jährigen. In der ersten Gruppe stieg die Erwerbstät­igenquote von 63 auf 77 Prozent, in der zweiten verdoppelt­e sie sich nahezu von 28 auf 53 Prozent. 2005 bezogen die Versichert­en ab einem Alter von 63,2 Jahren erstmals eine Altersrent­e, zehn Jahre später lag dieser Durchschni­ttswert bei 64,0 Jahren.

Rückendeck­ung bekommt Martin Schulz durch eine Umfrage der ARD: 65 Prozent befürworte­n seine Reform der Reform.

Mit 64 statt 63,2 Jahren in den Ruhestand

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Archivfoto: Imago SPD Kanzler Gerhard Schröder hat sich mit der Agenda 2010 in der eigenen Partei nicht nur Freunde gemacht.

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