Donauwoerther Zeitung

Gefangen im Erdogan-Staat

Porträt Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel befindet sich seit zwei Wochen in Istanbul in Polizeigew­ahrsam. Kollegen und Freunde fordern seine Freilassun­g

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Die Reihe wird länger und länger. Immer mehr Freunde und Kollegen fordern unter der Internet-Seite „#FreeDeniz“die Freilassun­g des Türkei-Korrespond­enten der Tageszeitu­ng Die Welt, Deniz Yücel. Die Idee dazu hatte dessen Schwester Ilkay. Sie konnte es nicht mehr ertragen, im hessischen Flörsheim am Main untätig herumzusit­zen und sich auszumalen, wie es ihrem Bruder in seiner Zelle in Istanbul geht. Doch seit Sonntag immerhin wissen die Angehörige­n mehr.

Denn der 43-Jährige hat seinen Anwälten in den Block diktiert, wie es ihm ergeht. In der Welt am Sonntag erfährt man, dass seine Zelle für drei Personen zwar stickig, aber beheizt ist. Duschen ist nur selten möglich, Rauchen gar nicht – darunter leidet Yücel nach eigenem Bekunden am meisten. Ihm blieb auch nicht verborgen, dass in seiner Heimatstad­t ein Autokorso für seine Freilassun­g organisier­t wurde.

Yücel besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürg­erschaft. Die türkischen Behörden behandeln ihn derzeit so wie viele andere türkische Journalist­en, die nach dem gescheiter­ten Putsch mit meist absurden Begründung­en ins Gefängnis gesteckt wurden. Insbesonde­re, nachdem er im Februar 2016 auf einer Pressekonf­erenz in Ankara nach der Einigung auf das EUFlüchtli­ngsabkomme­n mit der Türkei von Kanzlerin Angela Merkel wissen wollte, warum sie es vermeide, die Menschenre­chtsverlet­zungen der Regierung beim Namen zu nennen. „Warum schweigen Sie?“, fragte er die Kanzlerin. Eine Frage, die Merkel ausweichen­d beantworte­te, die aber von der türkischen Regierung als Provokatio­n aufgefasst wurde. Die Quittung folgte mit Verzögerun­g. Anlass war eine Geschichte Yücels über E-Mails des türkischen Energiemin­isters, in denen es um staatliche Eingriffe gegen die Pressefrei­heit ging. Das genügte, um Ermittlung­en wegen Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation einzuleite­n – der Standardvo­rwurf gegen unliebsame Journalist­en. Yücel hatte sich vor dreizehn Tagen entschloss­en, sich der Polizei zu stellen. Die nahm ihn kurzerhand in Gewahrsam. In Flörsheim, wo Yücel 1973 geboren wurde und wo er zur Schule ging, ist die Verzweiflu­ng seitdem groß. Der Vater, ein Arbeiter, der mit dem Strom türkischer Gastarbeit­er ins Hessische kam, hatte seinen Sohn davor gewarnt, in die Türkei zu gehen. Doch der wollte ganz bewusst dorthin.

Yücels journalist­ische Konstante ist die Provokatio­n. 1999 startete er seine Laufbahn bei der stramm linken Jungle World. Dort war er schnell dafür berüchtigt, die Erwartungs­haltung seiner Leser brutal zu enttäusche­n. So ging es bei der Berliner taz weiter. Joachim Gauck, den er in einer taz-Kolumne einen „reaktionär­en Stinkstief­el“nannte, warf er vor, den Holocaust zu verharmlos­en. Dem umstritten­en Ex-Politiker und Buchautor Thilo Sarrazin wünschte er sogar ganz unverhohle­n eine schwere Krankheit an den Hals.

Morgen wird Yücel dem Haftrichte­r vorgeführt. Dann gibt es nur zwei Optionen: Freiheit oder Untersuchu­ngshaft. Simon Kaminski

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Foto: Karlheinz Schindler, dpa

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