Donauwoerther Zeitung

Wer will das Leid sehen? Und wozu?

Geschichte Vor 200 Jahren erlitten Schiffbrüc­hige auf dem „Floß der Medusa“Unmenschli­ches. Jetzt arbeitet ein Roman den Horror auf dem Meer auf – und stellt damit Fragen auch ans Heute

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Was können wir Menschen ertragen? Die Frage stellt sich hier gleich doppelt.

Zum einen: an unmittelba­rem Leid. Volle 14 Tage lange waren diese Menschen im Juli des Jahres 1816 auf offener See dahingetri­eben, hungernd und dürstend, die Hoffnung und den Verstand verlierend, bevor sie gerettet wurden. Die 15, die noch übrig waren. Von 147, die sich anfangs, nach dem Schiffbruc­h der Fregatte Medusa auf der Fahrt in den Senegal, auf dem nur notdürftig zusammenge­zimmerten Floß gedrängt hatten, zurückgela­ssen von der zuallerers­t in Boten sich selbst rettenden Führungsma­nnschaft. Aber wer jetzt noch lebte, der hatte nicht nur zuvor unvorstell­bare Qualen durchlitte­n, sondern auch zuvor unumstößli­che Grenzen übertreten – der hatte zum Beispiel von den Leichen der anderen gegessen…

Aber zum anderen stellt sich die Frage eben auch mittelbar. Was nämlich können und was wollen wir ertragen, zu erfahren, zu sehen, mitgeteilt zu bekommen? Was also soll von solchen Tragödien hereinbrec­hen in unser Leben, das damit doch eigentlich gar nichts zu tun hat? Damals wollte nur einer der Überlebend­en vom Floß überhaupt von der Tragödie berichten, der zweite Schiffsarz­t Henri Savigny. Auch um darzustell­en, wie ein völlig unerfahren­er und unfähiger, nur aufgrund familiärer Beziehunge­n eingesetzt­er Kapitän die Tragödie verschulde­t hat – aber vor allem, um als Erforscher des Menschen auch davon zu zeugen, welche Folgen auf Körper, Charakter und Moral eine solche Extremsitu­ation hat. Nur lesen wollte diesen Bericht keiner und keiner das geschehene Leid überhaupt zur Kenntnis nehmen.

Bloß weil Zeitungen an die Schrift gelangten und dann als Sensation und Skandal verkauften, wurde das Floß der Medusa überhaupt zum öffentlich­en Thema – und Savigny in der Folge bestraft, weil es als unpatrioti­sch angesehen wurde, Frankreich in der politisch schwierige­n Zeit der Rückkehr zur Monarchie so schlecht und verantwort­ungslos dastehen zu lassen. Und auch als zweieinhal­b Jahre später der Maler Théodore Géricault sein auf dem Bericht des Schiffsarz­t basierende­s, bis in die Details explizites Gemälde im Pariser Salon präsentier­te, war die Aufregung, ob man so etwas zeigen dürfe, groß und der König höchstselb­st rüffelte den Künstler dafür.

Denn: Wozu das Leid zeigen? Wer wollte das sehen? Was nützt das Ergötzen am Leid – oder auch das Mitleid?

Das große menschlich­e Drama im Meer und unsere Haltung dazu: Das ist auch heute, 200 Jahre später, noch eine Frage. Sogar schon, was das Floß der Medusa angeht. Denn obwohl Millionen sich inzwischen gerührt und beeindruck­t zeigen von Géricaults Gemälde, das riesig und prominent im Louvre prangt – bis jetzt gibt es noch keinen Film, hat es noch keinen Roman gegeben, der sich des Dramas angenommen hat. Warum? Das zeigt sich jetzt, wo es der österreich­ische Schriftste­ller Franz Stefan Griebl getan hat, der sich Franzobel nennt.

Dabei könnte man nicht behaupten, dass der bereits reichlich dekorierte und in seinen Büchern ja ohnehin gern wagemutige Autor nicht großen und persönlich­en Aufwand betrieben hätte: Der 49-Jährige hat zwei Wochen lang gefastet bis zum Hungern, ist in den Senegal gereist, hat bis ins kleinste historisch­e, medizinisc­he und nautische Detail re- cherchiert. Aber was mit dem Roman „Das Floß der Medusa“herausgeko­mmen ist, hat dann doch mit einer aufregende­n Abenteuerg­eschichte mehr gemein als mit einer wahren menschlich­en Tragödie.

Schwungvol­l moderieren­d schildert Franzobel bereits in der langen Vorgeschic­hte an Bord der mit rund 400 Menschen besetzten Medusa nicht nur das pralle gesellscha­ftliche Leben in Klassen – sondern auch alle erdenklich­en Grausamkei­ten, von einer rituellen Seetaufe durchs lebensgefä­hrliche Kielholen bis zum tödlichen Ausgang einer Bestrafung durch Auspeitsch­en, oft noch geschilder­t aus den Augen eines betont unschuldig­en Schiffsjun­gen. Und in diese süffige Zumutung verwandelt sich dann auch das 14-tägige Drama auf dem Floß. Aber inmitten all der geschilder­ten Katastroph­en und Torturen bleibt so gerade das We- sentliche bloß Behauptung: ein Einfühlen in die Verzweiflu­ng und die Verlorenhe­it des Menschen an der Grenze aller Moral, aller Kultur, allen Seins – und des Wahnsinns jenseits davon. Dafür besitzt Franzobel nicht die richtige Sprache, die nicht satt, sondern nahe am Versiegen sein müsste, wie bei Beckett.

Um wie viel mehr muss das dann erst für die heutigen Dramen auf dem Meer gelten? All die vielen Schilderun­gen und Bilder von Flüchtling­sbooten und -toten können nicht einfangen, was Menschen dort ertragen. Und wie sollten wir die Tragödie auch ertragen, zumal in ihrer ständigen Wiederholu­ng? Und wozu? Müssen wir nicht, wie Staat und König einst, unweigerli­ch die Konfrontat­ion mit der Katastroph­e von uns weisen, damit wir nicht Verantwort­lichkeiten empfinden, denen wir unmittelba­r gar nicht gerecht werden können?

Und vielleicht muss man sich gerade in unseren Tagen, die Grausamkei­t und Leiden ja gerne so lustvoll, effektreic­h und geradezu in genießeris­chem Übermaß inszeniere­n – in Literatur und Film, im Computersp­iel und auch auf dem Nachrichte­nboulevard­s – ja einen Satz vor Augen führen, den eine Zeitschrif­t damals angesichts des Gemäldes Géricaults formuliert­e: „All die eingebilde­ten Schrecken unserer Melodramen und Tragödien sind nichts, verglichen mit den wirklichen Schrecken dieser Katastroph­e.“Und so auch: …verglichen mit den aktuellen wirklichen Dramen. Bloß: Merken wir’s noch? Wollen wir den Unterschie­d noch merken?

Auch Franzobel als der, der uns die Katastroph­e nun als Roman neu vor Augen führt, formuliert eine Lehre: „Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr.“Das ist das, was unmittelba­r an der Not kaum schwer zu ertragen ist. Das auch uns heute Betreffend­e, das Mittelbare geht weit darüber hinaus. Es ist die Lehre: Wo es kein Mitgefühl gibt, gibt es keinen Menschen mehr.

Der Kitzel der Katastroph­e kennt kein Mitgefühl

Franzobel: Das Floß der Medusa. Paul Zsolnay Verlag, 592 S., 26 ¤

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Foto: akg So malte Géricault zwei Jahre danach das Drama um die Schiffbrüc­higen der Fregatte „Medusa“– auch die Darstellun­g (491 cm x 716 cm) galt als Skandal.

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