Endlich ein eigenes Leben
Lange hat die Familie Makalic gekämpft, um in Deutschland bleiben zu können. Ihre Geschichte berührte Tausende. Wie es ihnen heute geht
Donauwörth Der Stolz ist Emina Makalic deutlich anzusehen: Endlich kann sie den Gast von der Zeitung in einer eigenen Wohnung empfangen, einen Kaffee anbieten und das eigens gebackene Baklava auf den Tisch stellen. „Bitte“, sagt sie und deutet auf das Ecksofa in dem kleinen Wohnzimmer. Sie lächelt, denn für mehr deutsche Worte reicht es noch nicht. Sie wirkt gelöst, ihr Blick ist offen. Auch ihr Sohn Dzanan scheint wie ausgewechselt, seine Haare trägt er nicht mehr kurz geschoren, er hat ein paar Kilos zugelegt. Als er freudestrahlend die Tür öffnet, sagt er sehr höflich: „Guten Abend, ich bin Dzanan“, und zeigt sein wirklich sehr bestechendes Lächeln. Seit er in die Förderschule nach Kaisheim geht, wird sein Deutsch immer besser.
Im Wohnzimmer aber setzt er sich schüchtern ins Eck, wartet ab, was die Frau von der Zeitung alles wissen will. In der Schrankwand hinter ihm stehen viele Fotos – ein Klassenfoto aus Kaisheim, Passbilder, die für die Ausweisdokumente gemacht wurden, ein Bild von dem Zwölfjährigen und dem Hündchen der Aktion-Anker-Helferin Birgit Müller. Sie hilft ihm regelmäßig bei den Hausaufgaben. Daneben kleben die Zeitungsausschnitte, die von der aufwühlenden Zeit erzählen, die gerade mal ein paar Monate her ist. Als die Familie um ihre Zukunft bangte, verzweifelt dafür kämpfte in Donauwörth bleiben zu dürfen. Es sind vor allem Bilder von Vater Cazim Makalic. Ziemlich genau ein Jahr ist es her, da gingen sein Gesicht und seine Geschichte bundesweit durch die Medien. Der heute 59-Jährige sollte abgeschoben werden, denn Bosnien war 2014 als sicheres Herkunftsland eingestuft worden.
Doch der Makalic Fall war besonders. Der Landwirt hatte 2012 in seinem Heimatdorf Karavlasi ein deutsches Mädchen vor Misshandlung und Missbrauch gerettet. Bettina S. wurde von ihrem Stiefvater, einem Nachbar der Makalics, wie eine Sklavin gehalten. Das ganze Dorf habe damals davon gewusst, niemand hätte etwas dagegen unternommen. Sogar die Mutter des Mädchens habe nichts unternommen. Das Landgericht Halle hat die 56-Jährige deshalb im Frühjahr 2016 zu sechs Jahren Haft und einer Zahlung von 75000 Euro Schmerzensgeld an die Tochter verurteilt. Cazim Makalic hatte dort als Zeuge ausgesagt.
Er war der Einzige, der sich damals entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen. Doch die Familie des in Bosnien zu nur zwei Jahren Haft verurteilten Gewalttäters drohte mit Rache. Sie seien auf offener Straße beschimpft, von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen und drangsaliert worden, erzählt Makalic noch heute mit aufgeregter Stimme. Die Erinnerungen an die schicksalhaften Tage sind bei ihm noch sehr lebendig. Die Situation eskalierte, als ihm mit Mord und seinem Sohn mit Entführung gedroht wurde. Die Familie entschloss sich, zu fliehen. Vor allem auch wegen Dzanan, der bis heute von den Ereignissen in seinem Heimatland traumatisiert ist.
Die Makalics kommen in den Landkreis Donau-Ries, denn hier leben zwei Brüder von Cazim. Einer in Neuburg, einer in Rain. Der Vater ist in Ingolstadt begraben. In der Flüchtlingsunterkunft Hotel Viktoria finden sie Zuflucht. Als die Abschiebung droht, gehen sie in die Offensive und schalten dank Unterstützung der Helfer von Aktion Anker und ihrem Anwalt die Medien ein. Bundesweit berichten Zeitungen, Radio- und Fernsehsender vom Makalic Fall. Schließlich war er auch 2012 in ganz Deutschland auf den Titelblättern als Retter gefeiert worden. Ein Privatsender organisiert sogar ein Treffen mit Bettina. Die Kamera ist live dabei.
Auch politisch wurde alles getan, was möglich schien. Eine OnlinePetition an den Landtag brachte 1000 Unterschriften. Die erlösende Nachricht kam trotzdem erst im August 2016. Das bayerische Innenministerium verfügte, dass die bosnische Familie vorerst in Deutschland bleiben kann. Die Entscheidung wurde vor allem mit dem gesundheitlichen Zustand des Sohnes begründet. Sechs Monate gilt die Aufenthaltsgenehmigung. Am 10. April muss und kann sie verlängert werden.
Die große Öffentlichkeit hat ihnen geholfen, zu bleiben. Davon ist die Familie überzeugt. Und sie würde es – trotz all den neugierigen Fragen der Journalisten und dem Stress – wieder tun. Die gewisse Berühmtheit, die mit den vielen Fotos in den Zeitungen einhergeht, ist ihnen nicht unangenehm. Man erkennt die Familie auf der Straße, in Geschäften. „Aber die Menschen sind sehr freundlich“, sagt Cazim Makalic, der bruchstückhaft Deutsch spricht.
Seit der Entscheidung des Ministeriums hat sich viel verändert. „Es ist ein ganz anderes Leben“, sagt er. „Ein Unterschied wie Tag und Nacht.“Der gelernte Landwirt hat seit sechs Monaten bei einer lokalen Entsorgungsfirma eine unbefristete Stelle. Mit Stolz trägt er die gelbe Arbeitskleidung auch nach Feierabend oder bei der Arbeit in seinem Schrebergarten, wo er Kartoffeln, Obst und Salat anbaut. „Wir haben uns früher auch selbst versorgt“, erklärt er. Wenn er morgens mit dem Rad zur Arbeit fährt, nimmt Sohn Dzanan den Bus nach Kaisheim in die Förderschule. Mutter Emina besucht seit einer Woche den Integrationskurs bei der Stiftung Peters und hat begonnen die deutsche Sprache zu lernen. Nachmittags putzt sie in einem Reisebüro. „Wir zahlen selbst für unser Leben“, sagt Cazim mit Stolz.
Auch die Sozialwohnung in einem Haus der Baugenossenschaft Donauwörth hat er vor gut drei Monaten selbst aufgetan. Er hat mitbekommen, dass jemand auszieht und gleich Interesse angemeldet. Die Möbel hat er seinem Vormieter abgekauft, denn die Familie hatte nichts. Ein Kühlschrank und ein Fernseher sind seitdem angeschafft worden. „Wir fühlen uns hier Zuhause“, sagt Emina. „Es ist so schön, niemand stört.“
Auch Dzanan hat endlich ein eigenes Zimmer. An der Tür hängt ein Foto von ihm. Auch darauf lächelt er so charmant. In seinem Bücherregal sitzen Kuscheltiere, auf dem Schreibtisch liegt ein Zauberwürfel. Mama Emina hat ihm blaue Bettwäsche aufgezogen, wie es Buben seines Alters gerne mögen. Trotzdem ist für Dzanan der Weg noch weit. Mutter Emina schildert, dass ihr tagsüber so fröhlicher Sohn nachts Angstzustände hat, im Traum schreit und kaum zu beruhigen ist. Alles was mit Bosnien zu tun hat, lehnt er ab. Er möchte nicht einmal seine Familie, Eminas Eltern und Geschwister, besuchen. „Und er hat bis heute Angst, dass wir wieder zurückmüssen“, erzählt die 42-Jährige. Als sie im Hotel Viktoria ihre Sachen packten, wurde Dzanan ganz panisch. „Er dachte, wir fahren nach Bosnien und hätten ihm nichts davon gesagt. Erst als wir in der Wohnung waren, hat er sich beruhigt“, schildert die Mutter. Dzanan geht in Donauwörth regelmäßig zur Therapie. Noch mindestens ein Jahr braucht er Betreuung, sagen die Ärzte. Die jetzt eingekehrte Normalität aber hilft ihm sehr, sagt Emina. „Er hat Freunde, geht raus und spielt und lernt gerne und schnell“, erzählt sie.
Was sie sich für die Zukunft wünschen? Da muss Emina Makalic nicht lange überlegen. „Ich will nur, dass mein Kind wieder ganz gesund wird“, sagt sie und die Tränen rollen ihr über die Wangen. Plötzlich ist alles wieder da. „Ich arbeite, damit wir uns irgendwann eine eigene Wohnung leisten können“, sagt dagegen Cazim Makalic. Er will anpacken, damit es seine Familie gut hat. Dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. „Und ich hoffe, wir dürfen wirklich für immer bleiben.“