Dirigiert von der Diktatur
Wer mag urteilen? Das Leben und die Kunst des Komponisten Schostakowitsch
des Systems zu schützen, indem er schon vor der Türe mit gepacktem Koffer der Dinge harrt. Im Flugzeug, Jahre später, ist ihm der letzte Rest der Selbstachtung verloren gegangen: Weil er auf einer AmerikaReise als Marionette des Regimes vorgeführt wurde, in einer ihm vorgeschriebenen Rede den von ihm über alle Maßen verehrten Komponisten Strawinsky verraten hat. „Warum hatte er das nicht kommen sehen?“Und warum auch nicht die allerschlimmste Zeit? Da ist die Stalin-Ära vorbei und die Macht unter Chruschtschow „vegetarisch“geworden, aber sie hat ihn fester im Griff als je. Schostakowitsch ist der Partei beigetreten und Vorsitzender des Komponistenverbandes geworden, hat seine Unterschrift unter verleumderische Schriftstücke gesetzt. Auch die Seele damit verkauft. Er verfügt über Auto und Chauffeur. Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“wird wieder gespielt. Aber die einstigen Freunde, die ihn früher nicht grüßten, aus Angst ihm damit zu schaden, wenden sich nun ab, weil sie ihn verachten.
Die Kunst unter der Diktatur. Das ist das Thema dieses Romans, dem Barnes sich in der Figur des Komponisten nicht als Richter, sondern als Fragender, als Verzweifelter nähert. Kann man als Künstler seine Kunst schützen, indem man sich selbst verrät, sich vom Taktstock der Macht dirigieren lässt. Darf man als Künstler Augen und Ohren schließen, um sich in Ruhe seiner Kunst zu widmen? Kann man sich in Ironie retten? Und wenn die Kunst mittönt im „Lärm der Zeit“, kann sie da noch wahr und rein sein? Oder ist es so, wie es sich Schostakowitsch erhofft, woran er verzweifelt festhält: dass die Kunst bleibt? Dass sie sich in „ein Flüstern der Geschichte“verwandelt, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist?
Sich selbst kann Schostakowitsch keine Achtung mehr engegenbringen. Aber auch anderen immer weniger. Einmal sieht er den Philosophen Jean-Paul Sartre, als er sich ein dickes Bündel Rubel auszahlen lässt… Wer also will urteilen über Künstler in der Diktatur? Julian Barnes will es nicht. Dass sein so eleganter Roman kleine kompositorische Schwächen hat, er den Erzähler gelegentlich auch zum Erklärer der Situation machen muss, tut dem Lesegenuss keinen Abbruch. Ein Kunstwerk! Schostakowitsch starb am 9. August 1975 als hochdekorierter Mann. Eine letzte Erkenntnis: „Der Lärm der Zeit hatte ihn taub gemacht.“Stefanie Wirsching