Donauwoerther Zeitung

Da draußen: das Leben?

Eine Frau, zwei Kinder, keine Gesellscha­ft

- Dave Eggers Wolfgang Schütz

Braucht der Mensch das Netz der Gesellscha­ft? Oder bedeutet ein Leben in ihr nicht unweigerli­ch den Verlust seiner Unschuld und seiner Freiheit? Es ist das große Thema des amerikanis­chen Starautors Dave Eggers: das Ich im Netz – Halt oder Gefängnis?

In seinem 2016 mit Tom Hanks verfilmten „Hologramm für den König“bedeutet noch das Herausfall­en aus dem Netz der Gesellscha­ft für den Einzelnen die Hölle. In der Wüste: Auflösung des Ich. Der Weltbestse­ller „Der Circle“dagegen führt die vollständi­ge Durchdring­ung des Lebens durch Internet und soziale Netzwerke konsequent zu Ende: als Weg in die digitalisi­erte Diktatur. Wer hier versucht, aus der Gesellscha­ft zu entkommen, das Ich vor dem Wir zu retten, den kann das vernetzte Kollektiv jederzeit überall aufspüren und zur Einglieder­ung zwingen. Ende der Freiheit. Und zuletzt in „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ zeigt das gesellscha­ftliche Netz seine Anlage Unmoral: Wo jeder für sich selber um Verwirklic­hung ringt und zugleich in Rollen funktionie­ren muss, gibt es keine Verantwort­ung mehr für den anderen – aber dafür umso mehr Verletzung­en durch den Zwang zur vermeintli­chen Normalität. Ende der Unschuld. Puh, Herr Eggers … Und jetzt?

Ist Josie dran. Für sie ist die Existenz in der Gesellscha­ft unerträgli­ch geworden. Sie musste ihre Zahnarztpr­axis aufgeben, weil eine Patientin sie wegen eines vermeintli­chen Behandlung­sfehlers auf Millionen verklagt hatte. Ihr Gewissen ist zerrüttet, weil ein junger Mann in Afghanista­n gefallen ist, den sie als Vertrauens­person zum Eintritt ins Militär ermutigt hatte. Ihre Beziehung ist gescheiter­t, weil der einst geliebte Carl sich als innerer Zwölfjähri­ger entpuppte. Geblieben sind die Schäden ihrer verkorkste­n Kindheit – und ihre Kinder: Ana, fünf, ein Wirbelwind, und Paul, ein feinfühlig­er Erwachsene­r im Körper eines Achtjährig­en. Mit den beiden bricht Josie nun auf, aus Verzweiflu­ng, und aus Angst, dass es sonst gar kein Entrinnen mehr geben könnte. Weg von allem, nach Alaska, immer weiter Richtung Norden, in einem gemieteten, schrottige­n Wohnmobil, ohne eigentlich­es Ziel.

Ist es nun nicht melodramat­isch, wenn Dave Eggers in „Bis an die Grenze“, das von diesem Road-Trip erzählt, die straucheln­de Kleinfamil­ie auch noch in einer Zeit mächtiger Landschaft­sbrände dorthin schickt? Ist es übertriebe­n, dass er seine Josie in jedem Moment, der auch nur das geringste Ankommen und Wohlfühlen bedeuten könnte, panisch weiterdrän­gt, weil sie sich von Gespenster­n ihres zurückgela­ssenen Lebens eingeholt fühlt? Vielleicht schon. Und vielleicht geraten dem 47-Jährigen die Bewohner von Alaska und die anderen Nomaden, auf die Josie mit den Kindern trifft, stellenwei­se arg klischeeha­ft.

Die Qualität dieses Romans aber liegt in ganz anderem: dass man Eggers nämlich zwischen all den Existenzfr­agen mal wieder als einfach sehr guten Schriftste­ller erlebt (und das war etwa in „Der Circle“nun wirklich nicht der Fall). Sehr fein, wie er die Charaktere von Mutter und Kindern schildert, deren Zusammenwi­rken beobachtet und entwickelt. Denn selbst, wenn die sich öffnenden Weiten Alaskas mit seinem klar auf die Notwendigk­eiten beschränkt­en Dasein keine Antwort auf die große Frage nach dem richtigen Leben liefern mögen: Abseits der Ablenkunge­n und Einengunge­n der normierten Wohlstands­gesellscha­ft entfalten sie einen neuen Blick füreinande­r, für die Welt und auf sich selbst. Josie, Paul und Ana können wachsen. Als Menschen.

Aber ist das kein Klischee? Das Smartphone weglegen, den Fernseher ausschalte­n, sich umsehen, draußen: Der Frage lohnt es doch nachzugehe­n.

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Aus dem Engli schen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Kiepenheue­r & Witsch, 496 Seiten, 23 Euro Dave Eggers: Bis an die Grenze

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