Vier Freunde auf dem Mississippi
Eine kaputte Taschenuhr statt einer Pistole? Das Abenteuer beginnt
Der Bayou ist eine aufregende Landschaft. Die dampfenden Sümpfe des Mississippi-Deltas sind voller Geräusche und Gefahren; Es murmelt, flüstert und pfeift, nie ist man sicher vor Treibsand und Krokodilen. Spätestens seit Tom Sawyer und Huckleberry Finn weiß man, dass dies ein Schauplatz für große Abenteuer ist. Schon der erste Satz in Davide Morosinottos Buch „Die Mississippi-Bande“verheißt ebensolches: „Alles begann mit dem Mord an Mr. Darsley.“
Helden dieser Geschichte sind vier Freunde im Teenageralter, der forsche Peter (genannt Te Trois, weil er der dritte von vier Brüdern ist), der kluge Eddie mit einem Sinn fürs Übernatürliche, die mutige Julie und ihr kleiner Halb-Bruder Francis mit dem Spitznamen Tit. In einer Blechbüchse finden die vier eines Tages drei Dollar – ein Vermögen für die Kinder, die bis auf Eddie, den Sohn des Dorfarztes, aus ärmlichen Verhältnissen stammen. Mit dem Geld bestellen sie sich eine Pistole aus dem Versandhauskatalog von Walker & Dawn. Geliefert bekommen sie aber eine alte Taschenuhr, die noch dazu kaputt ist. Was da wohl schiefgegangen ist, wundern sie sich, weil sie noch dazu bald Besuch von einem Vertreter der Firma bekommen. Er will die scheinbar wertlose Uhr unbedingt wieder zurückhaben. Te Trois, Eddie, Julie und Tit wittern das Abenteuer förmlich und dazu eine saftige Belohnung, wenn sie die Uhr selbst zurückbringen. Vom Süden der USA machen sich die Freunde auf in den Norden nach Chicago, wo das Versandhaus seinen Sitz hat. Mit ihrem Einbaum, dann mit dem Schaufelraddampfer und schließlich mit der Eisenbahn sind sie unterwegs. Schon die Reise ist an Ereignissen und Schwierigkeiten reich und in Chicago kommen sie schließlich einem Kriminalfall auf die Spur, der bisher ungeklärt war.
Nachvollziehen lassen sich die Stationen und Abläufe der Handlung auch in der Illustration des Buches mit alten Landkarten, Katalogseiten und Zeitungsausschnitten am Anfang der Kapitel. Sie führen zu deren Inhalt hin, sie geben der Geschichte eine reizvolle Atmosphäre und einen authentischen Charakter.
Natürlich hat Mark Twain für dieses Buch Pate gestanden, doch findet der Italiener Morosinotto, der in seiner Heimat ein bekannter Kinderbuchautor und bei uns noch zu entdecken ist, einen ganz eigenen Ton dafür. Es ist eine durch und durch spannende Geschichte, die Morosinotto in vier Teilen jeweils von einem der Kinder erzählen lässt. Durch diese Perspektivwechsel lernt der Leser die sehr unterschiedlichen Helden – liebenswert gezeichnete Charaktere allesamt – kennen: Te Trois, ein Draufgänger, der unter der Brutalität seines großen Bruders leidet und der Misere zu Hause am liebsten durchs Streunern im Bayou entflieht; Eddie, klug, vorsichtig und voller Sorgen, was alles passieren könnte; für die schöne Julie schwärmen sie beide. Sie aber verschanzt sich hinter einer harten Schale, um ihr häusliches Elend mit der Mutter und deren zahlreichen nächtlichen Besuchern sowie die Ausgrenzung aus der dörflichen Gemeinschaft als „Flittchenkind“zu ertragen. Schließlich ihr Halb-Bruder Tit, der schwarz ist und am liebsten schweigt.
„Die Mississippi-Bande“ist dabei nicht nur ein unterhaltsam zu lesendes Buch. In seiner Handlung, die 1904 spielt, gibt es einen historischen Aufriss der USA dieser Zeit. Die Leser lernen das dörfliche Leben in den Mississippi-Sümpfen ebenso kennen wie das Großstadtleben in New Orleans, Memphis oder Chicago. Sie erfahren einiges über technische Entwicklungen der Zeit wie die der ersten Automobile und der Eisenbahn sowie über gesellschaftliche Probleme. Bei der Darstellung von Rassenhass, Armut und Gewalt gegen Kinder schreckt Morosinotto nicht vor der harten Realität zurück, doch gelingt es ihm, diese Verhältnisse schlüssig und verträglich für seine jungen Leser zu schildern.
Welch ein Schmökererlebnis, welch ein Gewinn für alle Leser, die mit diesem Buch ganz tief in eine ferne Welt und Zeit versinken und mit den Figuren mitfiebern können.
Birgit Müller-Bardorff