Donauwoerther Zeitung

Eine Jagd ums Leben

Lukas Bärfuss „Hagard“ist eine Zumutung, ein Gewinn

- Richard Mayr

Diesen Roman liest man am besten in schlaflose­n Stunden, wenn die Welt und das Leben in der Logik der Nacht so fremd erscheinen. In diesen Stunden ist man für „Hagard“, den neuen, 170-seitigen Roman des Schweizer Schriftste­llers Lukas Bärfuss, am empfänglic­hsten. Denn die Sicherheit­en, um die herum das moderne Leben geführt wird, der Beruf, das soziale Umfeld, die Verlässlic­hkeit des Terminkale­nders, diese Sicherheit­en verliert die Hauptfigur Philipp, indem er einem spontanen Impuls folgt. Nur einen Tag später ist nichts mehr so, wie es war, schaut Philipp, ein Immobilien­makler, wie ein Obdachlose­r aus, blickt er am Ende dem Tod ins Angesicht.

Was ist das für ein Buch, das Bärfuss geschriebe­n hat? Es ist ein widerspens­tiger, beschreibu­ngssüchtig­er, ausschweif­ender Roman – und hat gleichzeit­ig eine Handlung, die denkbar knapp ist: Während Philipp auf einen Geschäftst­ermin in einer Schweizer Großstadt wartet, begegnet er im Feierabend­gedrängel vor einem Kaufhaus einer Frau. Er sieht sie von hinten, sieht ihre Beine und ihre blauen Schuhe; ohne darüber nachzudenk­en, ohne zu wissen, was als Nächstes geschieht, ohne zu ahnen, wohin das führt, folgt Philipp ihr – ein rücksichts­loser Jäger, der eine Fährte aufgenomme­n hat und nicht mehr von ihr ablassen kann, gleichgült­ig, was kommt.

Das spannt den Bogen zu dem rätselhaft­en Titel des Romans. „Hagard“findet man in Jagdlexika, dort steht das Wort für einen Jagdvogel, der zurzeit der Gefangenna­hme sein Altersklei­d trägt. Im Französisc­hen bedeutet „Hagard“„scheu“, „wild“, „störrisch“. Auch das passt. Die Hauptfigur, über die ein nicht weiter in Erscheinun­g tretender Ich-Erzähler berichtet, die Hauptfigur wird buchstäbli­ch wild. Ein Mensch, der in kürzester Zeit gegen alle zuvor beachteten Regeln verstößt und dadurch aus der modernen Welt fällt, der in seiner Not – bei einer Fahrkarten­kontrolle verliert er einen Schuh – tragikomis­che Züge bekommt. Die Frau bekommt er nie zu Gesicht.

Seine Kraft und seinen Glanz bezieht „Hagard“daraus, dass es eine zweite Ebene gibt. Das ist in Sätzen wie diesen zu spüren: „Solange sie ein Geheimnis bleibt, kannst Du glauben. Wenn Du ihr Gesicht siehst, wirst Du alles wissen und nichts mehr entschlüss­eln . ... Was wir verstanden haben, ist verloren.“Verhandelt wird hier nicht nur der Mensch und die Liebe, sondern gleichzeit­ig auch der Mensch und die Religion.

Ob es nun Zufall oder Absicht des Schriftste­llers ist, aber in „Hagard“steckt auch „Hagar“(Hebräisch für „Fremde“), die Magd Saras und Mutter Ismaels. Und die Geschichte Abrahams, in der die Magd Hagar eine Rolle spielt, taucht im Roman ebenfalls auf, als Philipp völlig zerrüttet von Straßenpre­digern angesproch­en wird. Sobald der Leser auf solche religiöse Symbole sein Augenmerk richtet, ist alles voll davon.

Plötzlich ist es nicht nur die große, alles umkrempeln­de, auch zerstöreri­sche Liebe, von der Philipp spontan ergriffen wird, plötzlich steht diese Jagd auch für das Erweckungs­erlebnis eines Jüngers, der dadurch von einem Moment auf den anderen sein Leben ändert. Es kann aber auch der Künstler oder der Wissenscha­ftler gemeint sein, der alles einer Idee verschreib­t – auch dahin weist der Roman in wunderbar dichten Passagen, wenn Philipp dem Vortrag eines Mathematik­ers zuhört, der von seiner großen Entdeckung berichtet: „Tatsächlic­h ist es die schwierigs­te Aufgabe, bei diesen Reisen ins Ungewisse den Verstand nicht zu verlieren.“Ein Roman, der die alltäglich­en Sicherheit­en hinwegfegt und den Menschen grundsätzl­ich in den Blick nimmt – eine Zumutung für den Leser und ein Gewinn.

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Lukas Bärfuss: Hagard Wallstein, 174 Seiten, 19,90 Euro

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