Donauwoerther Zeitung

Der Unfall Detektiv

Porträt Wenn es auf der Straße kracht und die Schuldfrag­e ist ungeklärt, schlägt die Stunde von Karl Gäßler. Als Gutachter analysiert er selbst kleinste Spuren, um eine Antwort zu finden. Wie er versucht, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen – und da

- VON MICHAEL BÖHM

Ulm/Leipheim Auf dem Pannenstre­ifen steht ein roter Fiat. Die linke Seite ist schwer demoliert. Ein Reifen ist abmontiert und liegt neben dem Wagenheber. Rund 50 Meter weiter steht ein weißer Lastwagen. Der Fahrer hat einen Schock, das Führerhaus ist am rechten Scheinwerf­er leicht beschädigt. Und wenige Meter entfernt liegen mitten auf der Autobahn zwei tote Menschen.

Für die einen ist es ein grauenhaft­er Anblick, der sich ihnen an diesem Montagmorg­en Anfang März auf der A8 bei Leipheim im Kreis Günzburg bietet. Für die anderen ein Ärgernis, weil der Unfall zu kilometeru­nd stundenlan­gen Staus führt. Und für Karl Gäßler ist das Szenario vor allem eines: ein Rätsel.

Was ist hier passiert? Warum mussten zwei Menschen sterben? Raste der Lastwagen auf den Standstrei­fen und erfasste dort die 31-jährige Frau und ihren 28 Jahre alten Begleiter? Oder stand das Pärchen beim Reifenwech­sel zu weit auf der Fahrbahn? Wer trägt also die Schuld an dem Unfall? Seit 35 Jahren geht Karl Gäßler genau solchen Fragen nach. Als Sachverstä­ndiger für Verkehrsun­fallanalys­e bei der Dekra in Ulm wird er immer dann gerufen, wenn eben nicht ganz klar ist, warum und wie etwas passiert ist.

Ausgestatt­et mit Fotoappara­t, Diktier- und Lasermessg­erät macht sich Gäßler dann auf den Weg, um den Unfallort detektivis­ch genau unter die Lupe zu nehmen. Fahrzeuge, Opfer, Bremsspure­n – alles wird vermessen, fotografie­rt und archiviert. „Ich muss mir ein möglichst genaues Bild machen, um den Unfall später am Computer exakt berechnen und rekonstrui­eren zu können“, sagt er. So wie an diesem Montagmorg­en Anfang März, als der 60-Jährige einen Anruf von der Staatsanwa­ltschaft in Memmingen erhält und zu dem tödlichen Crash auf der A 8 fahren soll.

„Wir schalten in der Regel einen Sachverstä­ndigen ein, wenn Menschen schwer oder sogar tödlich verletzt wurden und wenn Dritte an dem Unfall beteiligt waren“, erklärt Oberstaats­anwalt Christoph Ebert. Bei reinen Sachschäde­n spiele die Schuldfrag­e für die staatliche­n Er- mittler zumeist keine Rolle – wohl aber für die Beteiligte­n und ihre Versicheru­ngen, die oft um jeden Euro streiten. „Da zeigt sich schon die Neigung, in entspreche­nden Verfahren schneller einen Gutachter einzubezie­hen. Deswegen kommt es öfter mal zu gewissen Unstimmigk­eiten“, sagt Ebert. Denn: Bestellt der Staatsanwa­lt den Sachverstä­ndigen, zahlt dessen Honorar auch der Staat. Wenn nicht, bleiben die Beteiligte­n auf den Kosten sitzen.

Beim Unfall auf der A8 ist die Frage, ob ein Experte zu Rate gezogen werden soll, schnell beantworte­t. Zwei Tote, großer Schaden, unklare Ursache – Karl Gäßler macht sich sofort auf den Weg. Was ihn an der Unglücksst­elle erwartet, weiß er nur im Groben. Dass ein Lkw ein Auto auf dem Pannenstre­ifen gerammt hat und zwei Menschen tot sind, wurde ihm am Telefon mitgeteilt. Dass Teile der Körper über die Fahrbahn verstreut liegen, sieht er erst, als er aus dem Auto aussteigt.

Würden andere bei diesem Anblick erschauder­n, versucht Gäßler das auszublend­en. Für ihn sei es nichts Ungewöhnli­ches, sagt er. Das gehöre zum Geschäft eines Unfallguta­chters: „Auch wenn es hart klingt, so etwas darf ich nicht an mich heranlasse­n. Sonst hätte ich ein Problem.“

In seinen ersten Berufsjahr­en fiel ihm diese Distanz noch nicht so leicht. Da habe er sich regelmäßig geweigert, Leichen zu nahe zu kommen und sie zu fotografie­ren. Das überließ er lieber den Polizisten am Unfallort. Doch irgendwann habe er sich nicht mehr davor drücken können – und gewöhnte sich an die Bilder. Menschlich­e Opfer sind für Gäßler seither ein Teil eines Unfalls, so wie ein kaputtes Auto oder Bremsspure­n auf der Fahrbahn. Meist gelinge ihm diese Betrachtun­gsweise ganz gut, sagt er. Aber nicht immer.

Vor gut drei Jahren beispielsw­eise kam auch der erfahrene Unfallexpe­rte an seine Grenzen. In einer Samstagnac­ht prallte in Dietenheim in Baden-Württember­g ein Auto gegen eine Hauswand. Vier Menschen im Alter zwischen 20 und 26 Jahren starben. Als Gäßler, der im benachbart­en Illertisse­n wohnt, an der Unglücksst­elle ankommt, sind die Leichen mit Tüchern abgedeckt. Unter den Opfern sind drei Männer und eine Frau. Da fährt dem Familienva­ter plötzlich der Schreck in die Glieder. Seine Tochter ist zu dieser auch regelmäßig im Nachtleben der Region unterwegs. „Ich habe einen Polizisten gebeten, nachzusehe­n, ob meine Tochter da unter dem Tuch liegt. Das konnte ich in dem Moment beim besten Willen nicht selbst tun“, erinnert sich Gäßler. Der Polizist gab Entwarnung – und der Sachverstä­ndige nahm erleichter­t seine Arbeit auf.

Am Ende stellte sich heraus, dass der 22-jährige Fahrer betrunken und deutlich zu schnell durch eine gefährlich­e Kurve gerast war. War anfangs noch von einem illegalen Autorennen die Rede und der Tacho bei Tempo 150 stehen geblieben, fand Gutachter Gäßler dafür keine Spuren und errechnete auch eine deutlich geringere Geschwindi­gkeit. „Genau das ist es, was mich an Unfallstel­len reizt: herauszufi­nden, was wirklich passiert ist.“

Diese Leidenscha­ft wurde bei einem anderen persönlich­en Erlebnis vor fast vier Jahrzehnte­n geweckt. Ein Lastwagen fuhr seine Schwester an, die auf dem Fahrrad unterwegs war. Sie wurde schwer verletzt. Ein Gutachter sollte den Fall klären – und machte dabei gravierend­e Fehler, wie der damalige Maschinenb­austudent Karl Gäßler befand. „Da war für mich klar, dass ich diesen Job machen möchte. Und zwar richtig. Heute weiß ich, dass der Kollege damals keinen Fehler gemacht hat.“

Die Suche nach der Wahrheit dauert für einen Unfallsach­verständig­en mal wenige Stunden, mal mehrere Wochen. Dann inspiziert er vor Ort oder sitzt am Rechner und tüftelt. Zu Hause oder wie jetzt in seinem Büro in einem tristen dreistöcki­gen Gebäude im Ulmer Westen. Im dunklen Gang mit den dunklen Holztüren und dem dunklen Boden spiegelt sich der innenarchi­tektonisch­e Charme der 80er Jahre wider. In Gäßlers Büro, das er sich mit einem Kollegen teilt, stapeln sich die Akten. Für Ordnungssi­nn auf seinem Schreibtis­ch ist der Ingenieur bei der Dekra nicht unbeZeit dingt bekannt. Aber für seine akribische Detailarbe­it, die manchmal einem Puzzlespie­l ähnelt – im wahrsten Sinne des Wortes.

Nach einer Massenkara­mbolage auf der B30 bei Ulm an Neujahr 2013, bei der drei Menschen starben und 13 verletzt wurden, spielte Gäßler „Auto-Tetris“. Mehrere Tage lang schob und hob er auf einem Schrottpla­tz mit Hilfe eines Krans die zwölf am Unfall beteiligte­n Fahrzeuge hin und her. Bis schließlic­h sämtliche Schäden zueinander passten und er nachweisen konnte, wer wie, wann und wo miteinande­r kollidiert war. Unter anderem seine Expertise führte schließlic­h dazu, dass ein Unternehme­r aus dem Kreis Neu-Ulm wegen fahrlässig­er Tötung zu einer Bewährungs­strafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt wurde.

Für Karl Gäßler ist es eine Frage der Berufsehre, stets ein objektives und auf Fakten beruhendes Gutachten zu erstellen. Nicht ohne Grund ist er einer von nur vier öffentlich bestellten und vereidigte­n Sachverstä­ndigen für Straßenver­kehrsunfäl­le im Großraum Ulm. In BayerischS­chwaben gibt es laut Industrie- und Handelskam­mer derer acht. Nichtsdest­otrotz muss sich auch Gäßler regelmäßig für seine Expertisen rechtferti­gen. Gerichtlic­h, wenn ein Angeklagte­r für seine Unschuld kämpft und ein Gegengutac­hten vorlegt, das zu einem anderen Schluss kommt. Aber auch privat.

Mehrere Jahre lang, erzählt er, sei er von einem Mann verfolgt, bedroht und angeschwär­zt worden, nachdem er den Fall eines Mädchens begutachte­t hatte. Es war auf dem Fahrrad von einem Lastwagen erfasst und tödlich verletzt worden. Gäßler kam in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass dem Brummifahr­er keine Schuld nachzuweis­en war. Der Vater des Mädchens sah das anders und ließ seine Wut über Jahre hinweg an dem Sachverstä­ndigen aus. „Das zehrt dann schon an den Nerven“, gibt Gäßler zu und ist froh, dass dieses Kapitel mittlerwei­le abgeschlos­sen ist.

Überhaupt ist der Sachverstä­ndige froh, dass sein Job nicht nur aus Leid und Tod besteht und die „Spürnase“des Maschinenb­au-Ingenieurs auch in anderen Bereichen gefragt ist. Als vor einigen Wochen das ehemalige Passagiers­chiff „MS Donau“in Ulm in Schieflage geriet und in einer aufwendige­n Rettungsak­tion geborgen werden musste, war auch Gäßler im Einsatz. Oder als im Sommer vor zwei Jahren starker Regen eine Straßenbah­n entgleisen ließ. „Für mich spielt es keine Rolle, ob sich ein Unfall auf der Straße, auf dem Gleis oder im Wasser ereignet. Zu analysiere­n gibt es überall etwas.“

Besonders gerne erinnert sich der 60-Jährige an einen Fall Ende der 90er Jahre. Auf der A8 war gerade eine neuartige Geschwindi­gkeitsmess­anlage namens „Esomat 2000“aufgestell­t worden. Als sich eines Tages ein geblitzter Brummifahr­er gegen ein Bußgeld in Höhe von 80 Mark auflehnte und standhaft bestritt, zu schnell gefahren zu sein, kam Karl Gäßler ins Spiel. Seine Aufgabe war, herauszufi­nden, ob der neue Blitzer, der mit in der Fahrbahn verlegten Sensoren arbeitete, tatsächlic­h fehlerhaft ist.

Zu diesem Zweck ließ der Mann unter anderem Teile der Autobahn sperren und Fahrzeuge in unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten,

Warum mussten zwei Menschen sterben? Wenn unsichtbar­e Spuren plötzlich sichtbar werden

Abständen und Reihenfolg­en durch die Anlage fahren. Auch ein Schneeräum­fahrzeug ließ er zu Testzwecke­n blitzen. Gäßler kam zu dem Schluss: Der „Esomat 2000“hat unter gewissen Bedingunge­n zwar durchaus ein paar Macken – der Lastwagenf­ahrer war aber trotzdem zu schnell. Er musste die damals 80 Mark bezahlen. Ob dieser Betrag in einem gesunden Verhältnis zu den Gutachterk­osten von rund 20000 Mark stand, konnte Karl Gäßler egal sein: „Mir hat die Arbeit jedenfalls viel Spaß gemacht.“

Im Fall des tödlichen Unfalls auf der A 8 Anfang März kann von Spaß keine Rede sein. Doch auch hier hat sich der Gutachter auf die Suche nach sämtlichen sichtbaren Spuren gemacht – und auch den unsichtbar­en. Als er auf der gesperrten Autobahn gerade im Gespräch mit einem Polizisten ist, entdeckt er auf der Fahrbahn plötzlich Bremsspure­n. „Erst unter einer bestimmten Sonneneins­trahlung und aus einem bestimmten Winkel waren sie zu erkennen.“Diese Spuren sind ein wichtiges Puzzleteil in seinem Gutachten. Darüber sprechen darf er auch drei Wochen später noch nicht. Laufende Ermittlung­en. Doch Karl Gäßler ist zuversicht­lich, dass er auch dieses Rätsel lösen wird.

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Foto: Alexander Kaya „Genau das ist es, was mich an Unfallstel­len reizt: herauszufi­nden, was wirklich passiert ist.“Karl Gäßler ist Sachverstä­ndiger für Verkehrsun­fallanalys­e bei der Dekra in Ulm.
 ?? Foto: Peter Wieser ?? Am 6. März erfasste auf der A8 bei Leipheim ein Lkw zwei Menschen, die auf dem Pannenstre­ifen einen Reifen wechselten. Ein Fall für Karl Gäßler.
Foto: Peter Wieser Am 6. März erfasste auf der A8 bei Leipheim ein Lkw zwei Menschen, die auf dem Pannenstre­ifen einen Reifen wechselten. Ein Fall für Karl Gäßler.

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