Donauwoerther Zeitung

Die Frage der Woche Bücher mehrmals lesen?

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Natürlich. Was denn sonst. Man stelle sich nur vor, die Bücher würden sich auflösen, sobald die letzte Seite umgeblätte­rt ist, wären für den Leser für den Rest des Lebens verloren. Ein Drama. Wie überhaupt hätte man die Krisen der Kindheit ohne die vom ständigen Lesegebrau­ch zerfledder­ten „Hanni und Nanni“-Bände und „Winnetou I, II, und III“überstande­n? Undenkbar. Seitdem jedenfalls weiß man, dass Bücher so etwas wie ein Zuhause sein können, in dem man sich auskennt, sich am Vertrauten freut. Lieblingss­telle auf Seite 112! Aber weiter zur Weltlitera­tur, zum Beispiel zu Thomas Manns „Der Zauberberg“. Beim ersten Lesen alles verstanden, wirklich? Beim Wiederlese­n in etwas fortgeschr­ittenerem Alter erschien es einem jedenfalls so, als ob Mann den Roman in der Zwischenze­it doch leicht umgeschrie­ben hätte. Wer wieder liest, aber macht die Erfahrung ständig: Dass im Buch offenbar ganz Neues steht, beziehungs­weise etwas, das man überlesen oder nicht verstanden hatte, weil man der Story hinterherg­ejagt, nicht die Muße für das Ganze hatte. Ein großer Roman kann daher nicht nur zwei Mal gelesen werden, er sollte sogar. Und sei es alleine schon, um sich entspannt in der Sprachmelo­die zu verlieren. So wie man ja auch seine Lieblingss­ongs mehrfach hört, sich seine Lieblingsb­ilder an die Wände hängt, „Hamlet“ja vielleicht auch schon mehr als einmal auf der Bühne gesehen hat. Okay, bleibt noch das Zeitargume­nt: Die Lebenslese­zeit ist begrenzt, sollte man da nicht so viel wie möglich erkunden? Unbedingt. Aber nicht die Zahl der Bücher zählt, sondern das, was sie uns geben. Vielleicht auch erst beim zweiten Mal. Und wer sorgfältig auswählt, dem bleibt noch genug Zeit. Und sei es auch für „Asterix und Obelix“vor dem Einschlafe­n.

Es gibt viele gute Gründe, ein Buch nicht zweimal zu lesen. Der offensicht­lichste ist dieser: Es gibt sehr viele Bücher. Aber nicht so viele, die so gut sind, dass es sich lohnen würde, sie noch mal zu lesen. Leider weiß man dies meist erst, wenn es zu spät ist und man wieder ein „ganz gutes“oder „interessan­tes“Buch zu Ende gelesen hat. Das gehört zum Lesen dazu und verweist schon auf den nächsten Grund: Gut 14000 neue Bücher allein aus dem Bereich Belletrist­ik sind im vergangene­n Jahr in Deutschlan­d erschienen. Und im Jahr davor. Und dem davor. Und… Theoretisc­h könnte man also jedes Jahr gut 38 Bücher pro Tag lesen, ohne sich zu wiederhole­n. Wenn man sich das klarmacht, und mal versucht zu überblicke­n, wie weit die eigene Lesebiogra­fie überhaupt in die Vergangenh­eit reicht, wird man schon wieder unter der nächsten Neuerschei­nungs-Lawine begraben. Also: Auswahl ist entscheide­nd. Gute Bücher muss man finden. Abgesehen von der Mathematik liegt der wahre Grund aber im Wesen der Literatur selbst. Ein gutes Buch erzählt vom Leben, lässt uns als Leser ein anderes Leben miterleben. Das ist es, was uns fesselt und bewegt, beglückt oder gar zum Weinen bringt. Aber auch, wenn man es sich noch so wünscht: Das Leben lässt sich nicht wiederhole­n. „We can’t rewind, we’ve gone too far...“Dagegen kommt man nicht an. Wenn man ein gutes Buch zu Ende gelesen hat, ist das wie ein kleiner Tod. Die Figuren, mit denen man mitgelebt hat, verlassen einen wieder. Man muss sie gehen lassen und sich über die gute Zeit freuen, die man mit ihnen verbringen durfte. Dann geht die große Lesereise weiter. Bis man irgendwann, nach vielen durchschni­ttlichen Leseerlebn­issen, wieder auf ein wirklich gutes Buch stößt. Und ein neues Kapitel beginnt.

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PRO STEFANIE WIRSCHING
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CONTRA MATTHIAS ZIMMERMAN
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