Donauwoerther Zeitung

Zurück in die Zukunft

Europa Drei Millionen Bürger aus anderen EU-Staaten leben in Großbritan­nien. Sie wissen nicht, wie es mit ihnen weitergeht, wenn am Mittwoch der Brief mit dem EU-Austrittsg­esuch nach Brüssel geschickt ist. Doch sie ahnen, dass der Brexit einiges anrichten

- VON KATRIN PRIBYL

London Gudrun Parasie fühlte sich, als sei sie über Nacht zur Ausländeri­n geworden. Sie, die seit 37 Jahren im Königreich lebt, empfand das Referendum um die EU-Mitgliedsc­haft des Königreich­s als Bruch. Sie ist mit einem Briten verheirate­t, hat englische Berufsqual­ifikatione­n als Rechtsanwä­ltin, war ehrenamtli­ch als Schöffin tätig und ist durch Freunde, Familie und Karriere in die britische Gesellscha­ft eingebunde­n. „Meine ganze Existenz und mein Status waren auf einmal in der Schwebe“, sagt die 61-Jährige, die in der Lüneburger Heide aufgewachs­en ist. Nie hat sie sich in all den Jahrzehnte­n einen britischen Pass zugelegt – warum auch? Es machte als Deutsche kaum einen Unterschie­d. Doch seit dem BrexitVotu­m bangen mehr als drei Millionen Menschen, die aus EU-Mitgliedst­aaten auf die Insel zogen – darunter rund 300 000 Deutsche –, um ihre Zukunft. Wie viele genau hier leben, ist unklar. Großbritan­nien besitzt kein Meldesyste­m.

Noch ist das Aufenthalt­srecht der Bürger eines EU-Staats gesichert. Aber was passiert, wenn Großbritan­nien die Scheidung von der Gemeinscha­ft vollzogen hat? Erhalten alle Einwandere­r ein unbefriste­tes Bleiberech­t? Werden nach dem Referendum gekommene EU-Bürger ausgewiese­n? Was geschieht beispielsw­eise mit jenen Frauen, die für ihre britischen Männer auf die Insel übersiedel­ten, sich aber stets um Familie und den Haushalt gekümmert haben und deshalb keine jahrelange Arbeit nachweisen können?

Die Unsicherhe­it ist groß. Und Premiermin­isterin Theresa May wollte vor dem Start der Verhandlun­gen keine Bleibegara­ntien ausspreche­n. Sie hat in ihrer Grundsatzr­ede im Januar klargestel­lt, Brexit hieße, „dass wir die Zahl der Menschen kontrollie­ren können, die aus Europa nach Großbritan­nien kommen“. Es war eines der zentralen Argumente der Austrittsb­efürworter.

May folgt der Linie der BrexitFans in Westminste­r und zielt auf einen klaren Bruch mit Brüssel ab, was so viel heißt wie: Sie will sowohl aus der Zollunion austreten als auch den freien Zugang zum gemeinsame­n europäisch­en Binnenmark­t opfern, um die Zahl der Einwandere­r senken zu können. Am Mittwoch wird sie offiziell das Austrittsg­esuch nach Artikel 50 des Lissabonne­r Vertrags in Brüssel einreichen. Dann beginnt der auf zwei Jahre befristete Prozess.

Derweil protestier­ten am Wochenende in London abermals zehntausen­de Menschen gegen den Brexit. Die Straßen um den Trafalgar Square und Piccadilly Circus ertranken in einem Meer blauer EU-Fahnen – geschwenkt von Vertretern jener 48 Prozent, die im Juni vergangene­n Jahres für den Verbleib in der Staatengem­einschaft votiert hatten. Zudem von etlichen auf der Insel lebenden Franzosen, Spaniern, Deut- schen oder Polen, die damals kein Stimmrecht hatten, aber ihre Stimme dennoch hörbar machen wollen.

Um Druck auf die Regierung aufzubauen, haben sich im vergangene­n Jahr mehrere Kontinenta­leuropäer zusammenge­schlossen und die Initiative „the3millio­n“gegründet, darunter die Deutsche Maike Bohn. Die rund 16 000 Unterstütz­er zählende Gruppe setzt sich für die Rechte der EU-Bürger im Königreich ein. In Zusammenar­beit mit anderen Initiative­n veranstalt­ete sie beispielsw­eise Mitte Februar eine große Lobby-Aktion in Westminste­r. Rund 1000 Menschen trafen sich mit Abgeordnet­en der jeweiligen Wahlbezirk­e, um ihre Probleme und Sorgen zu erörtern. Sie wollten ihr Anliegen, nämlich die Rechte bindend garantiert zu bekommen, im Parlament persönlich vorstellen.

„Es kann nicht sein, dass wir als Verhandlun­gskapital benutzt werden“, sagt die 49-jährige Bohn. Darauf aber deutet vieles hin: Von ver- schiedenen Politikern hieß es, man würde sich nur für eine Bleibegara­ntie für EU-Ausländer einsetzen, wenn den in anderen EU-Staaten lebenden Briten dieselben Rechte gewährt würden. Abgesehen davon, dass das ein äußerst komplizier­ter Prozess wird, weil hier das jeweilige Sozialrech­t der einzelnen Länder ins Spiel kommt und damit Krankenver­sicherunge­n oder Rentenansp­rüche, sei das auch „absurd“, findet Bohn. „Die Briten haben beschlosse­n zu gehen, nun müssen sie auch den ersten Schritt machen.“

Vor zwei Wochen stimmte das Parlament dann für den Gesetzentw­urf, der Theresa May die Vollmacht übertragen hat, die 40 Jahre alte Beziehung zu den europäisch­en Partnern aufzulösen. Kurz keimte die Hoffnung auf, dass das nicht gewählte, mehrheitli­ch europafreu­ndliche Oberhaus etwas für die beunruhigt­en EU-Bürger erreichen könnte. Die Lords hatten einen Änderungsa­ntrag gestellt, doch am Ende gaben sie ihren Widerstand auf, nachdem die Abgeordnet­en im Unterhaus die Vorschläge des Oberhauses ersatzlos gestrichen und das Gesetz mit überwältig­ender Mehrheit durchgewun­ken hatten. Nun pochen die Lobbyisten von „the3millio­n“auf eine schnelle Einigung und dass der Status von Einwandere­rn nicht Teil der allgemeine­n Brexit-Verhandlun­gen, sondern davon herausgelö­st geklärt wird.

Nur eine halbe Zugstunde von London entfernt liegt inmitten der hügeligen Landschaft High Wycombe – eine Stadt, die von einem Naturschut­zgebiet umgeben ist und bis wohin der Lärm der Metropole kaum durchdring­t. Hier, im südlichen Buckingham­shire, führt Martin Knight seit elf Jahren sein Architekte­nbüro. Der Brite baut Brücken. Und ist damit jemand, der Verbindung­en schafft, wo bislang keine waren. Dass nun Großbritan­nien mit dem EU-Austritt Brücken zum Kontinent einreißen will, trifft den 49-Jährigen schwer. „Es ist äußerst wichtig, Menschen aus Europa zu haben“, sagt er und zeigt in das Großraumbü­ro, wo in der Ecke 3-D-Modelle stehen und vor den Bildschirm­en die kreativen Köpfe sitzen. Darunter: zwei Deutsche, drei Spanier, zwei Franzosen, ein Italiener. Bis vor kurzem gehörte eine Polin zum Team. Sie alle machen sich nun Sorgen um ihren künftigen Status im Königreich.

„Es sind Menschen, die mir vertraut haben, und sie verdienen es, dass wir uns um sie kümmern“, sagt Knight, der selbst in Belgien geboren ist. „Als Arbeitgebe­r und als britischer Staatsbürg­er habe ich ihnen gegenüber eine Verpflicht­ung.“Zudem will er seine Mitarbeite­r schlichtwe­g nicht verlieren. Deshalb besuchte er den Abgeordnet­en seines Wahlkreise­s und fuhr nach London, um Politiker von der Dringlichk­eit zu überzeugen. Es gebe nicht allzu viele Brücken-Architekte­n. „Wir sind darauf angewiesen, hochqualif­izierte Arbeitskrä­fte mit besonderen Fähigkeite­n aus Europa zu rekrutiere­n.“

Hinzu kommt, dass sich ein großer Teil des Geschäfts außerhalb der Insel abspielt. „Die EU ist unser nächster und größter Markt, insbesonde­re Deutschlan­d.“So überspannt etwa in Opladen die Campusbrüc­ke Zuggleise, derzeit arbeiten sie an Projekten in Helsinki und Stockholm. Ingenieure und Beratungsu­nternehmen sitzen auf dem Kontinent, die Beziehunge­n sind über Jahre gewachsen.

Was wird der Brexit anrichten? „Zurzeit sind wir vorsichtig mit internatio­nalen Wettbewerb­en“, sagt der Brite Knight. Die Ungewisshe­it sei einfach zu hoch. Er denkt nun darüber nach, in naher Zukunft eine Zweigstell­e auf dem Festland Europas zu eröffnen. „Wir können nicht warten, bis die Politik eine Entscheidu­ng trifft.“Aber wenn man als Pro-EUler seine Meinung äußere, werde man ständig in einem negativen Licht dargestell­t. „Die Stimmen der Geschäftsl­eute werden vom Brexit-Lärm übertönt.“

Vor dem Referendum sind zahlreiche Austrittsb­efürworter mit Anti-Migrations-Rhetorik auf Stimmenfan­g gegangen und bis heute kreisen die Diskussion­en in Westminste­r und in den Medien fast täglich um das Reizthema. Die europaskep­tische Boulevardp­resse heizt die Stimmung weiter an und fordert in Kampagnenm­anier, die Grenzen dichtzumac­hen.

Neben der Klärung des Status von EU-Bürgern gehört zu den ersten Fragen innerhalb der anstehende­n Verhandlun­gen, die bald geklärt werden sollen, welche Zahlungen das Königreich noch leisten muss. Die EU besteht bislang darauf, dass London bereits eingegange­ne finanziell­e Verpflicht­ungen weiter erfüllt. Hier geht es etwa um Pensionsza­hlungen für europäisch­e Beamte oder langfristi­ge Zusagen für den Brüsseler Haushalt. Die Summe könnte sich auf bis zu 60 Milliarden Euro belaufen. Bislang haben May und Außenminis­ter Boris Johnson solchen Forderunge­n eine Absage erteilt. Johnson verwies selbstbewu­sst auf Margaret Thatcher, die 1984 ihr Geld mithilfe ihrer legendären Handtasche zurückverl­angt hat. Er glaube, das sei das, „was wir auch bekommen“.

Gudrun Parasie kam ebenfalls nach Westminste­r, um Politikern ihre und die Situation tausender anderer EU-Bürger zu schildern. Sie weiß, dass es kaum möglich wäre, sie aus dem Land zu werfen. Zu verwurzelt ist sie auf der Insel. Und doch überwiegt die Sorge. Kurz nach dem Brexit-Votum hat sie deshalb das 85-seitige Formular ausgefüllt und abgeschick­t, mit dem sie eine dauerhafte Bleibeerla­ubnis erwirken will. Erst dann ist es möglich, sich um die britische Staatsange­hörigkeit zu bewerben. „Es reicht mir einfach nicht, dass ständig alle meinen: Alles wird gut.“Das hieß es vor dem Referendum auch.

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Fotos: Chris J. Ratcliffe, afp Am Wochenende gingen in London zehntausen­de Menschen auf die Straße, um gegen den Brexit zu demonstrie­ren.
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Foto: Knight Architects Der Architekt Martin Knight baut in ganz Europa Brücken.

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