Donauwoerther Zeitung

Wohnen in der Großstadt geht auch anders

Einblick Martin Lidl und seine Familie schlafen, duschen, kochen auf Rädern. Ihre Heimat ist der „Stattpark Olga“, eine Wagensiedl­ung in München. Wieso sie sich für diese alternativ­e Lebensweis­e entschiede­n haben

- VON SABRINA SCHATZ

München Wenn Martin Lidl eine Tasse Tee trinken will, muss er zuerst pumpen. Denn nur so kommt bei ihm zu Hause Wasser aus dem Hahn. Er hebt und senkt den rechten Fuß so lange auf ein Pedal, bis es gluckert und sprudelt. „Da ist ein Tank drunter. Den müssen wir alle fünf Tage auffüllen“, sagt er und streift sich über den Ziegenbart. Als die hellblaue Teekanne voll ist, setzt der 49-Jährige sie auf die Gasherdpla­tte. Der Zirkuswage­n duftet nach Kräutern.

Lidl lebt auf vier Rädern. Sein Zirkuswage­n steht auf einer Wiese im Münchner Stadtteil Obersendli­ng. Zur U-Bahn-Haltestell­e Aidenbachs­traße sind es nur ein paar Schritte. Auf dem Grundstück, das ein Bauzaun umringt, hat sich der „Stattpark Olga“niedergela­ssen – eine Wagensiedl­ung. Ein Dutzend bunt bemalte Bau-, Wohn- und Lastwagen reihen sich dort aneinander. Der Weg, der sich durch die Wagen schlängelt, führt vorbei an Briefkäste­n, Blumentöpf­en und einem Surfbrett. Ganz hinten links steht Lidls Domizil – zehn Meter lang, 2,45 Meter breit, mit gelben Fensterrah­men und Kaminrohr. Ein Gerüst aus Holzbrette­rn und Fenstergla­s ragt aus dem Dach. An diesem Turm will Lidl später, am Nachmittag, weiterwerk­eln.

Den „Stattpark Olga“– kurz für: Ohne Lenkrad geht’s auch – gibt es seit rund acht Jahren. Anfangs zählte er zehn, heute 26 Bewohner. Männer, Frauen, Kinder. Schreiner, Elektromei­ster, eine Architekti­n. Lidl verdient sein Geld als Musiker. Er spielt unter anderem Gitarre in einer Band und steht mit musikalisc­hem Kabarett auf den Bühnen der Landeshaup­tstadt. Seinen Zirkuswage­n teilt er sich mit Frau Sarah und Sohn Miro, der an diesem Vormittag im Kindergart­en ist.

Während der Kräutertee durchzieht, streift sich Lidl die Pantoffeln von den Füßen, winkelt seine Beine an und macht es sich auf der Eckbank bequem. Über seinem Kopf baumeln Pullover, die er zum Trocknen unters Dach gehängt hat. Die Familie nutzt jeden Winkel in ihrem Wagen. Kochlöffel, Bücher, Miros Spielsache­n – alles hat seinen Platz. „Ich habe das Dach irgendwann höher gesetzt, damit wir noch eine zweite Ebene haben. Da schlafen Sarah und ich, unten Miro“, sagt Lidl und zeigt auf die Kissen.

Früher wohnte der gebürtige Oberbayer in WGs, zog oft um. Dann lernte er Menschen kennen, die in Wagen wohnten. „Bei denen war’s schön und ich hatte das Gefühl: Das kann die Antwort sein. Mobil sein und in der Gemeinscha­ft leben, wollt’ ich schon immer“, erinnert er sich. Schließlic­h schloss er sich Gleichgesi­nnten an, die auf dem Gelände eines Gutshofs in der Nähe von Regensburg lebten. Das war vor 17 Jahren.

Sein aktuelles Zuhause, den ausrangier­ten Materialwa­gen eines Zirkus, entdeckte Lidl in den Kleinanzei­gen. Er baute ihn aus, teilweise nutzte er Material, das auf Baustellen übrig geblieben war. Als typischen Wagenbewoh­ner sieht er sich nicht: „Den gibt’s nicht.“Es gebe Gastarbeit­er aus Osteuropa, die in München keine Wohnung finden. Auch Männer, die daheim rausfliege­n, weil sie Stress mit ihrer Familie haben. Die Globetrott­er und die Aussteiger. Auch die Liebhaber, die sich für 100 000 Euro einen Wagen herrichten lassen, samt Regenwasse­rfilteranl­age und Solarzelle­n auf dem Dach. „Was alle verbindet, ist, dass sie in Wagen wohnen.“Je länger Lidl erzählt, desto deutlicher dass da noch mehr ist, was die Bewohner eint.

Zum Beispiel die bewusste Entscheidu­ng für eine alternativ­e Wohnform. „Man muss sich doch fragen: Ist es sinnvoll, so viel Fläche zu verbauen und zu versiegeln? Ohne dabei jetzt philosophi­sch zu werden“, sagt der Münchner und nippt an der Teetasse, aus der es dampft. In Amerika sei es ganz normal, mobil zu sein. Im engen Europa dagegen hielten die Menschen am traditione­llen Wohnen fest – selbst wenn die Mieten horrend sind wie in München und man den Nachbarn nur vom Türschild kennt. Doch: „Wenn jemand den Sinn dieser Wohnform nicht von vornherein erkennt und sich aus der Not heraus

dafür entscheide­t, dann geht das schief.“

Erst im vergangene­n Sommer musste der „Stattpark Olga“umziehen. Mittlerwei­le zum zweiten Mal. Die bis dahin genutzte Fläche im Schlachtho­fviertel wurde anderweiti­g gebraucht. Wieder einmal fuhren die Bewohner mit Fahrrädern durch die Stadt, um eine neue Lücke für sich zu finden. Wieder einmal schlugen sie dem Kommunalre­ferat Flächen vor. Die Behörde prüfte sie und lehnte einige ab. Dann stellte die Stadt die Wiese in Obersendli­ng zur Verfügung – obwohl große Flächenkon­kurrenz tobt und das Wohnen in Wagen sich in einer gesetzlich­en Grauzone bewegt. Mal greifen Kfz-Regeln, mal das Baurecht. Bernd Plank, Sprecher des Münchner Kommunalre­ferats, sagt: „Das Projekt ist politisch gewollt. Die Stadt will alternativ­e Wohnformen unterstütz­en.“Doch es werde immer schwerer, Flächen zu finden, mit denen beide Seiten einverstan­wird, den sind. Bei einem privaten Grundstück­seigentüme­r hätte es „Olga“schwer. Lidl sagt: „Wir nutzen Flächen, die kurzzeitig brachliege­n und tot sind. So eine Zwischennu­tzung kann ein Viertel beleben.“

So zog das Dorf auf Rädern nach Obersendli­ng um. Doch bereits im September 2018 wird die Platzmiete voraussich­tlich enden. Dann soll auf der Wiese eine Schule gebaut werden. Die Suche geht von vorn los.

Die Tür geht auf, Lidls Frau Sarah – Pferdeschw­anz, Jogginghos­e, Wollsocken – tapst herein. Sie kommt vom Wagen nebenan, ihrem Rückzugsor­t. Dort hat sie gearbeitet und Kurse vorbereite­t. Die 33-Jährige ist selbststän­dige Stimmbildn­erin und lehrt etwa Schwangere­n oder Erziehern, richtig zu atmen. Durch das Leben in der Gemeinscha­ft kann die Familie Kind und Beruf gut verbinden. „Für Eltern ist es eine entspannte Form zu leben. Man hilft sich gegenseiti­g, jeder muss mal ran. Das Vertrauen und die Wertschätz­ung jedes Mitglieds sind groß“, sagt Lidl. Und die Kinder fänden es toll. Wer führt schon ein Leben wie das von Peter Lustig aus der TV-Serie Löwenzahn? „Aber natürlich müssen wir in manchen Situatione­n Abstriche machen“, ergänzt Sarah.

Etwa, was die sanitären Anlagen betrifft. Da ein Kanalansch­luss fehlt, gibt es Dixie-Klos und eine Hütte mit Kompost-Klo. Wer im Gemeinscha­ftswagen duschen will, sollte eine halbe Stunde zuvor den Tank auffüllen und Boiler anheizen. Alles eine Frage der Gewohnheit, sagen die Lidls.

Draußen, auf der anderen Seite des Bauzauns, läuft eine grauhaarig­e Frau mit Rollator den Gehweg entlang. Neugierig linst sie zur Wagenburg. Ihre Blicke streifen die Paletten, Reifenstap­el und leeren Getränkeki­sten. Die Graffiti an den Wagenwände­n, die Schlaglöch­er, die jetzt im Frühjahr klaffen.

Der „Stattpark Olga“fällt auf, das wissen die Bewohner. Die Münchner hätten sich an Ordnung und Aufgeräumt­heit gewöhnt, alles andere sähen sie als Fremdkörpe­r. Laut Kommunalre­ferat kommt es hin und wieder zu Beschwerde­n. „Klar ist das nicht alles Hochglanz hier“, sagt Lidl. „Aber wir sind weder verdreckt, noch frieren wir im Winter.“Um Vorurteile aus der Welt zu schaffen, laden die Wagenbewoh­ner Nachbarn und Interessie­rte ein: zum Platzcafé im Sommer, zu Konzerten, politische­n Diskussion­en oder zur Radlwerkst­att. Auch einen Garten mit Hochbeeten gibt es, in dem im Sommer alle gemeinsam Gemüse anbauen.

„Klar ist das nicht alles Hochglanz hier.“

Martin Lidl über Vorurteile

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Fotos: Sabrina Schatz Martin Lidl und Frau Sarah wohnen im „Stattpark Olga“in München, einem Dorf auf Rädern inmitten von München.
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