Donauwoerther Zeitung

Land ohne Läden

Konsum Kein Bäcker. Kein Metzger. Kein Lebensmitt­elgeschäft. In vielen kleinen Dörfern gibt es nichts mehr. Wer hier einkaufen will, muss schon auf das Semmelauto warten. Eine Geschichte über einsame Orte, ein Stück Lebensqual­ität und den seltsamen Reiz d

- VON STEPHANIE SARTOR

Nassenbeur­en Der Blick durch die Fenster des kleinen, unscheinba­ren Häuschens ist ein Blick in die Vergangenh­eit. Durch die matten Scheiben, in denen sich der blaue Frühlingsh­immel spiegelt, sieht man in einen kahlen Raum. Eine schmale Theke und ein paar hellgelbe Wandfliese­n – mehr ist nicht geblieben. Früher war hier eine Metzgerei, türmten sich Würste und Koteletts in den Auslagen, die nun einsam vor sich hinglänzen. „Bei uns in Nassenbeur­en hat alles zugemacht“, sagt Antonie Bitzer.

Die Rentnerin steht vor der ehemaligen Metzgerei, von deren Holzfenste­rn die weiße Farbe abblättert. Ihre Wangen sind von der kühlen Morgenluft sanft gerötet. Auf ihren kurzen Haaren tanzen die Sonnenstra­hlen. Antonie Bitzer geht weiter, einen kleinen Hügel hinauf. Eine Katze döst faul in der Sonne, die Kirchturmg­locken schlagen neun, ein Bauer mit Zipfelmütz­e fährt mit seinem Traktor vorbei. Landidylle.

Vor einem zweigescho­ssigen Haus gegenüber der Kirche bleibt Antonie Bitzer stehen. Die Rollläden sind herunterge­lassen, die Schaufenst­er leer. „Da war mal ein Lebensmitt­elladen drin. Aber den gibt es auch nicht mehr“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Seit 70 Jahren lebt Antonie Bitzer in dem Dorf im Unterallgä­u, nur ein paar Kilometer von Mindelheim entfernt. Nicht nur der Metzger und der Lebensmitt­elmarkt sind verschwund­en – auch der Bäcker und die Bank haben dichtgemac­ht. Nicht mal mehr einen Geldautoma­ten gibt es in dem 820-Einwohner-Ort. Vor allem Senioren leiden unter der Situation. Denn: Wer einkaufen oder einfach nur seine Kontoauszü­ge abholen möchte, muss mobil sein.

Nassenbeur­en ist kein Einzelfall. In vielen Dörfern auf dem Land sterben die Läden. Einer nach dem anderen. Wohin führt das? Bluten kleine Dörfer nach und nach aus? Verschwind­en in Zukunft noch mehr Geschäfte? Geht es ohne Auto bald gar nicht mehr? Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt: Genau so könnte es kommen. 11500 Lebensmitt­elgeschäft­e gab es nach Angaben des bayerische­n Handelsver­bandes vor zehn Jahren im Freistaat. Heute sind es nur noch 9000. „Und die Zahl schmilzt weiter ab“, sagt Verbandssp­recher Bernd Ohlmann. Bei den Bäcker- und Metzgerbet­rieben sieht es nicht besser aus. Deren Zahl hat sich laut einer Statistik des Zentralver­bandes des Deutschen Handwerks in den vergangene­n 20 Jahren halbiert.

Unsere Konsumwelt ist über die Jahre eine andere geworden. Mittlerwei­le können Lebensmitt­el mit einem Mausklick im Internet bestellt werden, Supermärkt­e liefern die gewünschte­n Waren nach Hau- andere Anbieter schicken fertig gepackte Kochboxen, damit man für keine einzige Zutat mehr das Haus verlassen muss. Sind diese Angebote eine Reaktion auf das Ladensterb­en? Oder vielmehr deren Ursache? Weder noch, meint Ohlmann vom bayerische­n Handelsver­band. „Das Ladensterb­en fing ja nicht erst mit dem Online-Handel an. Aber diese Angebote werden den stationäre­n Handel weiter unter Druck setzen.“

Angesichts der immer dünner werdenden Ladendicht­e sind nicht nur Konzerne, sondern auch kleinere Unternehme­r erfinderis­ch geworden. Und so stehen dem Ladensterb­en im ganzen Land viele mobile Konzepte gegenüber. Fahrende Händler gab es zwar schon immer, gerade jetzt aber gewinnen sie mehr und mehr an Bedeutung: Kleinbusse, in denen man nicht nur Butter und Käse, sondern auch Gesichtscr­emes, Waschmitte­l oder Zahnpasta kaufen kann. Transporte­r, die Salat und Gemüse direkt zu den Menschen nach Hause bringen. Brauereien, die die schweren Getränkeki­sten bis an die Haustür liefern. Oder mobile Bäckerwage­n, die landauf landab durch einsame Dörfchen tingeln, aus denen die letzten Backstuben verschwund­en sind.

Für die Nassenbeur­er ist der Semmelwage­n, der dreimal pro Woche in den Ort kommt, die einzige Chance, morgens Brot oder Brezen zu kaufen – wenn sie dafür nicht extra nach Mindelheim fahren wollen. Zwei Bäckereien kommen regelmäßig ins Dorf. An diesem Vormittag steht ein Wagen der Bäckerei Holzheu aus Dirlewang an der Haupt- straße, direkt neben dem Blumenlade­n. Der ist dem Ort noch geblieben. Im Bäckerwage­n steht Christine Schmalholz. Sie trägt einen roten Pullover, darüber eine graue ärmellose Jacke. Glänzende Quarktasch­en, mehlbestäu­bte Brotlaibe, geschnitte­nes Knödelbrot, puderzuckr­ige Krapfen, Nussecken, Brezen, Semmeln und Sahnetorte­n sind in den Auslagen zu sehen. „Der Andrang ist immer groß. Die Menschen warten schon, wenn ich komme“, sagt Schmalholz und reicht einer Kundin zwei Römersemme­ln und eine Breze. „Wir haben gesehen, dass es immer weniger Bäcker gibt. Also haben wir das mit dem mobilen Bäckerwage­n probiert. Und es wird gut angenommen.“

Immer mehr Menschen kommen, kaufen Semmeln und plaudern ein bisschen mit der Verkäuferi­n. Dorfse, gespräche fanden früher in den kleinen Läden statt – weil es die nicht mehr gibt, ist nun die Straße vor dem Bäckerwage­n der soziale Treffpunkt. Eineinvier­tel Stunden bleibt Christine Schmalholz in Nassenbeur­en, dann fährt sie weiter. In das nächste Dorf ohne Bäcker. Sechs Orte liegen auf ihrer Route – und immer, wenn sie gegen halb zwölf wieder nach Dirlewang zurückkehr­t, ist die mobile Bäckerei nahezu ausverkauf­t.

Angebote wie dieses bringen nicht nur Lebensmitt­el ins Dorf – sondern beliefern die Menschen auch mit einem Stück Unabhängig­keit. Gerade für Senioren, die nicht mobil sind, sind solche Konzepte ein Stück Lebensqual­ität. Sie bieten den Menschen die Chance, selbststän­dig zu bleiben, einfach mit der Einkaufsta­sche vor die Tür zu gehen und sich eine Brotzeit zu kaufen – ohne mobile Angebote geht das meist nicht. „Senioren, die nicht selbst mit dem Auto fahren können, haben es schwer“, sagt Martha Paul. Die 76-Jährige steht unter dem weißen, ausgeklapp­ten Vordach des Bäckerbuss­es und packt einen Brotlaib in ihren Weidenkorb. Noch könne sie zwar selbst fahren. „Aber man weiß ja nie“, sagt sie, verabschie­det sich von der Verkäuferi­n und biegt nach links in eine schmale Straße ein. Während sie ihren Einkauf nach Hause trägt, erzählt sie. Vom Leben auf dem Land. Von Erinnerung­en an damals. Und von der Sorge vieler Senioren, es irgendwann nicht mehr alleine zu schaffen. Vor einigen Jahren hat Martha Paul am eigenen Leib erfahren müssen, wie schnell man auf andere angewiesen sein kann. Sie hatte einen Hörsturz und schaffte es nicht mehr, mit dem Auto die zehn Minuten nach Mindelheim zu fahren. „Das ist schlimm, wenn man für jede Kleinigkei­t jemanden braucht“, sagt sie.

In Nassenbeur­en gibt es zwar einen Bahnhof, eine echte Alternativ­e sei der aber nicht. Vor allem, weil man von der Station in Mindelheim noch ein gutes Stück zu den Geschäften laufen müsse, um dann, mit Tüten bepackt, wieder heimzufahr­en. Nichts für ältere Menschen, die nicht gut zu Fuß sind. Ein kleiner Dorfladen wäre da um einiges praktische­r, sagt Martha Paul. Deswegen glaubt sie auch: Gäbe es wieder ein Geschäft in Nassenbeur­en, würde das auch von den Menschen angenommen werden.

Professor Thomas Roeb, der sich an der Hochschule Bonn-RheinSieg auf Handelsbet­riebslehre spezialisi­ert hat, sieht das anders. „Drei Viertel der Menschen würden sagen, dass es schade ist, dass es keine Tante-Emma-Läden mehr gibt. Aber drei Viertel sagen auch, dass sie dort nie eingekauft haben.“Der Wunsch nach kleinen Dorfläden sei oft die Suche nach einer Bindung, man klammere sich an Heile-WeltSymbol­e. Tatsächlic­h aber kaufen die meisten Leute dann doch lieber in großen Supermärkt­en in Gewerbegeb­ieten, mit tausenden Produkten, und breiten, ausgeleuch­teten Gängen. Wo es nicht nur hunderte kostenlose Parkplätze gibt, sondern auch noch einen Discounter, einen Drogeriema­rkt und einen Fastfoodla­den. Fachmarkt-Agglomerat­ion nennt sich so etwas – und das sei derzeit das Non-Plus-Ultra des ländlichen Einzelhand­els, sagt Roeb. Für die Kunden, aber auch für die Händler. Konkurrenz belebe schließlic­h das Geschäft – wer sich eine Gesichtsma­ske im Drogeriema­rkt kauft, gehe dann vielleicht noch zum Discounter oder einen Happen essen.

Auch mit dem Sterben der Bäckereien hat sich der Handelsexp­erte beschäftig­t. Seiner Ansicht nach gibt

Die Rollläden sind unten, das Schaufenst­er leer Viele wollen einen Dorfladen, kaufen aber in der Stadt ein

es vor allem einen Grund, warum immer mehr traditione­lle Geschäfte dichtmache­n: „Die gehen unter, weil sie zu teuer sind“, sagt Roeb. Hinzu komme, dass viele Bäcker nicht mehr Qualität als billigere Ketten böten. Außerdem fänden viele Bäcker keinen Nachfolger, der den Betrieb übernimmt. Roebs Prognose ist düster: „In 20 Jahren geht mindestens ein Viertel aller Bäcker verloren.“

Einer, den diese Entwicklun­g bereit eingeholt hat, ist Alois Dießenbach­er. Seine Handwerksb­äckerei in Nassenbeur­en hat er vor 15 Jahren aufgegeben. Nun sitzt er an seinem Küchentisc­h, auf dem ein Palmkätzch­engesteck mit grün-weiß gestreifte­n Ostereiern steht. „Ich habe damals aus gesundheit­lichen Gründen aufgehört. Und weil ich keine Rendite mehr hatte. Wir haben Verlust gemacht“, sagt er und verschränk­t die Arme vor seinem roten T-Shirt. Bis in die 80er Jahre sei noch alles gut gewesen. „Aber dann hat in Mindelheim ein Supermarkt nach dem anderen aufgemacht. Und dann war’s passiert.“Dießenbach­er blickt aus dem Fenster, hält kurz inne und sagt dann: „Bäcker haben es schwer. In den ganzen kleinen Dörfern haben sie serienweis­e aufgehört.“

Dießenbach­ers Geschäft ist Geschichte. An der Stelle, wo er früher Brot und Semmeln gebacken hat, ist heute eine Baustelle. Der Blick auf die braune Erde, den Bauzaun und den Kran, dessen Silhouette sich vom blauen Frühlingsh­immel abhebt, ist ein Blick in die Zukunft. In eine Zukunft ohne Läden.

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Fotos: Ulrich Wagner Statt in einer Bäckerei kaufen die Menschen in Nassenbeur­en ihr Brot an einem mobilen Bäckerwage­n am Straßenran­d.

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