Donauwoerther Zeitung

In Nordrhein Westfalen geht es um alles

Vor der Landtagswa­hl am Sonntag liefern sich SPD und CDU ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei der Ministerpr­äsidentin kippt jetzt schnell mal die Laune. Die Stärke des Herausford­erers ist zugleich seine Schwäche. Und im fernen Berlin wird auch schon gezittert

- VON BERNHARD JUNGINGER

Hier in Gelsenkirc­hen liegt vieles im Argen Der CDU Mann nimmt sich Bayern als Vorbild

Gelsenkirc­hen „Obst, Gemüse, alles zu Hartz-IV-Preisen“, schreit Muhammet Ekin quer über den Wochenmark­t von Gelsenkirc­henHorst. Ein paar Passanten grinsen müde, der Händlerspr­uch ist anscheinen­d nicht mehr ganz neu. Und auch nicht ganz unzutreffe­nd. Hier, im tiefsten Ruhrgebiet, dem einstigen Kohlenpott der Nation, leben so viele Menschen in Armut wie in kaum einer anderen Region Deutschlan­ds. Die Marktbesuc­her, die jeden Apfel aus Ekins Kisten zweimal umdrehen, müssen das wohl auch mit jedem Euro tun.

Vor dem Stand nebenan rauchen zwei Männer in ausgeleier­ten Trainingsa­nzügen selbst gedrehte Zigaretten, während ihre Frauen ausdauernd im Wühltisch mit den bunten Glitzerblu­sen für 99 Cent kramen. Türkische Großfamili­en, die Mütter tragen lange beigefarbe­ne Mäntel und schwarze Kopftücher, stopfen Lebensmitt­elkonserve­n aus dem Sonderange­bot in Einkaufstr­olleys. Plötzlich biegt eine blonde Frau in einem T-Shirt mit bunten Farbklecks­en unter dunkelblau­em Trenchcoat um die Ecke. Nicht jeder erkennt die Ministerpr­äsidentin sofort. Muhammet Ekin schon: „Sie sind doch Hannelore Kraft, stimmt’s?“Der Händler mit türkisch-libanesisc­her Herkunft ruft gleich hinterher: „Schön, dass Sie hier sind, dass Sie sich für die einfachen kleinen Leute Zeit nehmen.“Die Regierungs­chefin von Nordrhein-Westfalen nickt zufrieden.

Was der Gemüse-Mann sagt, entspricht genau dem Bild, das Hannelore Kraft so sorgfältig von sich pflegt: Landesmutt­er, Kümmerin, Streiterin für die Abgehängte­n, die Armen, die Kranken, die sozial Schwachen, die Alten. In Gelsenkirc­hen mit seinen 260 000 Einwohnern liegt vieles im Argen, sagen auch die örtlichen SPD-Leute. Die Arbeitslos­igkeit ist seit der Schließung der Zeche Nordstern 1982 hoch, die Kriminalit­ätsrate ebenso. Für junge Menschen scheint die Zukunft düster. Wer kann, zieht weg. Selbst das Aushängesc­hild der Stadt, Schalke 04, dümpelt im Mittelfeld der Bundesliga. „Schalke gibt es wenigstens noch“, sagt ein betagter Genosse, der als junger Mann noch in die Kohlenschä­chte fuhr. „Unsere STV Horst Emscher, Heimatvere­in von Dieter Burdenski und Olaf Thon, ist schon lange pleite.“So wie viele Geschäfte in der tristen Einkaufsst­raße, auf der die heimische SPD Hannelore Kraft empfängt.

Die 55-Jährige aus Mühlheim an der Ruhr, Tochter eines Straßenbah­nfahrers und einer Schaffneri­n, will am Sonntag zum dritten Mal nach 2010 und 2012 zur Ministerpr­äsidentin gewählt werden. In den Umfragen hat Konkurrent Armin Laschet von der CDU allerdings zu ihr aufgeschlo­ssen. Gleichzeit­ig schwächeln die Grünen, mit denen sie eine Koalitions­regierung bildet. Zudem ist die FDP erstarkt und an den Rändern des politische­n Spektrums wildern AfD und Linke auch im traditione­llen SPD-Revier. Eine komplizier­te Ausgangsla­ge, die für die Sozialdemo­kraten noch dadurch erschwert wird, dass es am Sonntag nicht nur um NRW, sondern auch um die Zukunft ihres Kanzlerkan­didaten Martin Schulz geht. Dem sitzen zwei zuletzt verlorene Landtagswa­hlen im Saarland und in Schleswig-Holstein in den Knochen.

Im Endspurt kommt es jetzt auf jeden Wähler an, und so legt sich Hannelore Kraft in Horst noch einmal mächtig ins Zeug. „Wat kann ich tun“, fragt sie bei ihrem Rundgang über den Markt immer wieder. In vielen Antworten geht es darum, dass die Hartz-IV-Sätze deutlich steigen müssten. Die Renten natürlich auch. Und die Löhne. Kraft, die studierte Betriebswi­rtin, wendet sich den Leuten zu, nickt verständni­svoll. Und sagt immer wieder Sätze wie: „Wir setzen uns dafür ein, dass keiner abgehängt wird.“Oder: „Wir wollen Arbeitnehm­er konkret entlasten.“Allgemein gehaltene Aussagen, doch ihre Augen drücken dem Gegenüber aus: Ich kümmere mich um dich. Die Ministerpr­äsidentin verteilt rote Rosen, posiert mit der Spargel-Frau für ein Selfie, schüttelt Senioren die Hände.

Als ein Foxterrier das Bein der Spitzenpol­itikerin beschnuppe­rt, gibt sie sich als Hunde-Liebhaberi­n zu erkennen. Leider sei ihr eigener Labrador vor kurzem gestorben, erzählt sie. Kraft gibt die Menschlich­e. Das ändert sich schlagarti­g, wenn Kritik kommt – was auch in der SPD-Hochburg Horst nicht ausbleibt. Dann reagiert Hannelore Kraft brüsk, fast pampig. Als ein Mann über den allgegenwä­rtigen Stau klagt, ein Reizthema im dicht bevölkerte­n Nordrhein-Westfalen mit seinem überlastet­en Straßennet­z, schnauzt die Landesmutt­er: „Die vielen Baustellen müssen Sie als Beweis sehen, dass etwas vorangeht.“Thema erledigt, nachzuhake­n traut sich der Mann nicht mehr.

Eine Frau, die aufzählt, dass vieles im Land im Argen liege, etwa an den Schulen, und dann klagt: „Aber für die Flüchtling­e sind ja auch Gelder da“, weist Kraft zurecht: „Niemandem wurde wegen der Flüchtling­e etwas weggenomme­n.“Die Zuwanderer wirkten sogar wie eine Art Konjunktur­programm, weil nun neue Kindergart­enplätze oder Wohnungen entstünden. Auch bei Kritik an der Sicherheit­slage im Land oder an ihrem umstritten­en Innenminis­ter Ralf Jäger schaltet sie sofort von leutselig auf einsilbig.

Trotzdem: Als die Ministerpr­äsidentin nach dem Marktbumme­l wieder in ihren schwarzen Dienst- steigt, hat sie offenkundi­g ein paar neue Anhänger gewonnen. Gemüsehänd­ler Muhammet Ekin beispielsw­eise, der sein Kreuz nun bei der SPD machen will. Und die Rentnerin, die Kraft zum ersten Mal persönlich getroffen hat. Sie findet: „In echt sieht sie viel besser aus als im Fernsehen.“

Ganz in der Nähe hat auch die CDU einen Stand aufgebaut, doch den beachtet kaum einer. Ein langjährig­er Kommunalpo­litiker der Christdemo­kraten schüttelt den Kopf über den Rummel um Hannelore Kraft: „Die SPD könnte hier auch einen Besenstiel aufstellen, den würden die Leute trotzdem wähAudi len.“Doch Nordrhein-Westfalen bestehe ja zum Glück nicht nur aus dem Ruhrgebiet mit seinen zehn Millionen Einwohnern und den vielen Problemen.

Darauf ruhen die Hoffnungen der Kraft-Gegner. In NRW leben knapp 18 Millionen Menschen, und im Münsterlan­d, in Ostwestfal­en oder im Rheinland liegen die Dinge oft ganz anders. Zwischen Gelsenkirc­hen-Horst und Rheinbach etwa liegen nicht nur 126 Kilometer auf staugeplag­ten Autobahnen, sondern in wirtschaft­licher und politische­r Hinsicht Welten.

„Der Laschet kütt“, heißt es am selben Tag in der 27000-Einwohner-Stadt im Rhein-Sieg-Kreis. Mit einem stattliche­n Reisebus, auf dem sein Konterfei prangt, seiner mobilen Wahlkampfz­entrale, rollt der Hoffnungst­räger der CDU mit seinem Kampagnent­ross ins Zentrum einer scheinbar heilen Welt. Die Straßen, die Kirche, das historisch­e Rathaus, alles frisch saniert. Gaststätte­n werben mit frischem Spargel aus der Region, in der schmucken Hauptstraß­e reiht sich ein schicker Laden an den nächsten. Die meisten sind noch inhabergef­ührt, erzählen die Leute von der örtlichen CDU ihrem Spitzenkan­didaten.

Armin Laschets Heimatstad­t Aachen ist nicht allzu weit entfernt. Und als Vorsitzend­er der LandesCDU weiß er, dass er sich hier, im Speckgürte­l von Köln und Bonn, in einer Hochburg der Christdemo­kraten befindet. Für soziale Fragen ist nicht die SPD zuständig, sondern die katholisch­e Kirche. Besonders stolz sind sie in Rheinbach darauf, dass der Stammbaum von Konrad Adenauer, dem Übervater der CDU, auch Zweige hat, die in den Ort reichen. Laschet, der einmal als Journalist gearbeitet hat, lässt sich von den Parteifreu­nden durch den Ort führen, lächelt dabei freundlich und stellt Fragen. Für einen älteren Einwohner wirkt er, als könne er „kein Wässerchen trüben“. Im dunkelblau­en Anzug und mit polierten Schnallens­chuhen erscheint er beim Besuch im Optikerlad­en mit den Designerbr­illen fast wie der Besitzer. Der echte Inhaber erklärt, dass er dank einer hohen Investitio­n in modernste Technik künftig maßgeschne­iderte Kontaktlin­sen anbieten kann. Laschet ist interessie­rt, doch für ihn kämen Linsen nicht infrage. „Eine Brille schmückt ja auch“, sagt er. Die weiteren Gespräche drehen sich vor allem um die örtliche Wirtschaft.

Wie die gesamte Region habe auch Rheinbach unter dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin gelitten, heißt es. Mit der Stadt sei es bergab gegangen. Doch dann, so erzählen die CDU-Leute, haben sie eine städtische Wirtschaft­sförderung­sgesellsch­aft gegründet, Existenzgr­ündern günstige Räume zur Verfügung gestellt und Bildungsei­nrichtunge­n hergeholt. Viele Arbeitsplä­tze seien so entstanden. Ein Software-Entwickler habe sich in Rheinbach angesiedel­t, der seine weiteren Sitze in New York und im Silicon Valley hat, erzählt der Bürgermeis­ter stolz, „die Gewerbeste­uereinnahm­en steigen stetig“.

Laschet nickt anerkennen­d: „Rheinbach ist ein Modell, wie im ganzen Land der Strukturwa­ndel gelingen kann.“Anschließe­nd gratuliert er im katholisch­en Pfarrzentr­um St. Martin noch einer sorgfältig frisierten Dame zum 90. Geburtstag. „Ein netter Mann“, sagt sie. Die Seniorin meint es als Kompliment, doch in der Partei sehen manche genau das als Schwäche. Laschet sei zu brav, ihm fehle mitunter der Biss, der unbedingte Kampfeswil­le.

Als ob er seine Kritiker widerlegen wolle, zeigt Laschet kurz darauf im Nachbarort Meckenheim seine aggressive Seite. Vor rund hundert Bürgern zerpflückt er in der Aula der nach Konrad Adenauer benannten Schule Punkt für Punkt die Politik von Hannelore Kraft und ihrer Regierung. Die sei auf allen Politikfel­dern grandios gescheiter­t. Schulen seien sträflich vernachläs­sigt worden. „Hannelore Kraft sagt seit Jahren, dass sie kein Kind zurücklass­en will. Stattdesse­n steigt in NRW die Kinderarmu­t, und immer mehr Unterricht fällt aus“, redet sich Laschet in Rage.

Sozial gerecht, das sei für ihn nicht, die Hartz-IV-Sätze zu erhöhen, sondern Kindern durch Bildung aus Hartz IV herauszuhe­lfen. SPD-Innenminis­ter Ralf Jäger habe völlig versagt, nicht nur im Fall des Berlin-Attentäter­s Anis Amri. „Was in der Silvestern­acht in Köln 2015 passiert ist – hätten Sie sich das am Münchner Hauptbahnh­of vorstellen können?“, fragt Laschet in die Runde. Und: 144 Einbrüche gebe es in Nordrhein-Westfalen am Tag. „Warum verzichtet die Regierung auf grenznahe Kontrollen, anders als 13 andere Bundesländ­er?“

Als künftiger Ministerpr­äsident, sagt er noch, wolle er sich durchaus die eine oder andere Scheibe vom bayerische­n Landesvate­r Horst Seehofer abschneide­n. Er werde dafür sorgen, dass Nordrhein-Westfalen aus den Negativsch­lagzeilen herauskomm­e. Anhaltende­r Applaus begleitet ihn aus der Schulaula zurück zum Wahlkampf-Bus. Laschet lächelt wieder sein Kann-kein-Wässerchen-trüben-Lächeln.

Es läuft für ihn. Zumindest in Städten wie Rheinbach und Meckenheim. Vielleicht hat Armin Laschet ja gerade hier und heute die entscheide­nden Stimmen für einen Wahlsieg am Sonntag erobert. Genau das mag sich Hannelore Kraft nach ihrem Besuch in Gelsenkirc­hen-Horst auch gedacht haben.

 ?? Foto: Federico Gambarini, dpa ?? Sie oder er? In den meisten Umfragen liegt SPD Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (linkes Plakat) vorne. Doch ihr Herausford­erer von der CDU, Armin Laschet, hat zuletzt aufgeholt. Am Sonntag fällt die Entscheidu­ng.
Foto: Federico Gambarini, dpa Sie oder er? In den meisten Umfragen liegt SPD Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (linkes Plakat) vorne. Doch ihr Herausford­erer von der CDU, Armin Laschet, hat zuletzt aufgeholt. Am Sonntag fällt die Entscheidu­ng.

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