Donauwoerther Zeitung

Wo Kunst auf ihr Ende wartet

Projekt Bevor ein Berliner Bankgebäud­e abgerissen wird, haben Künstler es nach ihren Vorstellun­gen gestaltet. Besucher stehen Schlange vor „The Haus“, denn die Zeit ist knapp

- VON SEBASTIAN MAYR

Berlin Irgendwo in Raum 201 hängen Bilder an den Wänden. Wer zu ihnen vordringen will, muss gefühlt unendlich viele schwarze Stoffbahne­n zur Seite schieben, die, zwei Finger breit, von der Decke baumeln. Besucher, die sich auf die Suche nach den Bildern machen, dürfen sich nicht verunsiche­rn lassen. Denn vielleicht treffen die eigenen Hände plötzlich auf fremde, die von der anderen Seite nach dem Stoff greifen. Viel weiter als ein paar Zentimeter reicht der Blick in der dunklen Umgebung nicht.

Raum 201 ist ein Teil des spektakulä­ren Berliner Kunstproje­kts „The Haus“. Künstler aus der Hauptstadt, aber auch aus anderen Städten und Ländern haben 108 Räume eines ehemaligen Bankgebäud­es gestaltet. Was die Organisato­ren Street Art oder Urban Art nennen, ist Kunst für alle Sinne. Die Besucher gehen über Sand, Mulch, Moos oder zerbrochen­e Schallplat­ten, bewegen sich durchs Helle und durch die Dunkelheit, hören das monotone Rattern von Zügen über Schienen, riechen indische Duftstäbch­en und können gegen Fußbälle treten. Auch die Toiletten der früheren Bank sind kreativ umgestalte­t worden.

„The Haus“ist mal witzig, mal unheimlich, gelegentli­ch obszön und immer zum Staunen. Im Juni wird das Gebäude im alten Westberlin zwischen Zoo und KaDeWe abgerissen und mit ihm verschwind­et die Kunst. An der Stelle lässt ein Kölner Immobilien­unternehme­n Eigentumsw­ohnungen errichten. Die Firma wandte sich auf der Suche nach einer Zwischennu­tzung an das Künstlertr­io „Die Dixons“. Die drei Berliner schlugen das Projekt vor und trommelten über ein Netzwerk die Leute zusammen. „Wir haben alle angerufen, die wir kennen“, sagt Dixons-Mitglied Jörn Reiners.

Dass die Kunstwerke in ein paar Wochen gemeinsam mit dem Haus dem Erdboden gleichgema­cht werden, war für die Künstler kein Problem – im Gegenteil. „Genau das war für viele Künstler das Thema“, sagt Reiners. Street Art ist vergänglic­h, genauso wie „The Haus“. Einige Künstler reisten sogar eigens nach Berlin, um dort einen Raum oder einen Flur gestalten zu können.

Draußen vor dem Gebäude tigert Reiners’ Mitstreite­r Kimo von Rekowski neben der Warteschla­nge in der zugigen Straße auf und ab. Wer „The Haus“besuchen möchte und keine Führung gebucht hat, muss auch an einem Nachmittag unter der Woche eine Stunde warten. Mehr als 200 Leute auf einmal dürfen „The Haus“nicht betreten.

Das Projekt zieht alle an. Junge Frauen mit Ringen in der Nase, Familien mit Kindern, elegante Mittvierzi­ger mit teuren Sonnenbril­len, Rucksackto­uristen und ältere Herrschaft­en mit Janker und Steppjacke. Etwa 1000 Besucher sind seit der Eröffnung am 1. April pro Tag gekommen. Der Eintritt ist frei, es gibt nur eine Bedingung: keine Handys. Telefone müssen nicht nur in die Taschen, sondern in blickdicht­e Tüten, die am Eingang verteilt werden. „Wir schenken euch zwei Stunden Freiheit“, ruft Rekowski mit kehliger Stimme.

Verboten ist nicht nur das Telefonier­en, sondern auch das Fotografie­ren. Beschwert hat sich über diese Regel noch keiner. Die Organisato­ren jedenfalls sind überzeugt: Wirklich einlassen auf die Kunst kann sich nur, wer die Räume auf sich wirken lässt, statt Erinnerung­sbilder zu sammeln. Tatsächlic­h geht von einigen Räumen eine fast meditative Wirkung aus. Im fünften Stock zum Beispiel fällt Licht durch Transparen­tpapier in Blau und Pastelltön­en, es rauscht fast wie am Meer. Wer da stehen bleibt, kann sich dem Trubel der Besucher zum Trotz verlieren.

Wer es lauter mag und wissen will, wie sich illegales Sprayen anfühlt, kann im vierten Stock ein realistisc­hes Szenario erleben: Dunkelheit, Steine wie in einem Gleisbett, Geräusche vorbeifahr­ender Züge. In „The Haus“ist dagegen alles legal gesprüht und geklebt. Nur eine Gruppe konnte es nicht lassen. Noch bevor das Gebäude Anfang Januar die Türen für die Künstler öffnete, gestaltete sie heimlich eine der Wände.

The Haus Nürnberger Straße 68/69, 10787 Berlin. Geöffnet bis 31. Mai, Dienstag bis Sonntag 10 bis 20 Uhr. Re servierung­en unter www.thehaus.de

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 ?? Fotos: Christophe Gateau, dpa ?? Ein Haus für viele Formen der Kreativitä­t: Ein Wandbild, ein bemooster Stuhl sowie Sprayer Kimo von Rekowski mit Arbeitsmat­erialien.
Fotos: Christophe Gateau, dpa Ein Haus für viele Formen der Kreativitä­t: Ein Wandbild, ein bemooster Stuhl sowie Sprayer Kimo von Rekowski mit Arbeitsmat­erialien.
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