Donauwoerther Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (17)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Du bist Blut von meinem Blut, du bist mein Augapfel, und mich zerreißt der Gedanke, dass meine idiotische­n Bemerkunge­n böses Blut zwischen uns gestiftet haben könnten. Ohne dich bin ich nichts. Ohne dich bin ich niemand. Meine liebe, geliebte Rachel, bitte gib deinem schwachsin­nigen Alten eine Chance, seinen Fehler wieder gutzumache­n.“In diesem Ton fuhr ich noch einige Absätze fort, um den Brief mit der guten Neuigkeit zu beenden, dass ihr Vetter Tom auf wundersame Weise in Brooklyn aufgetauch­t sei und sich darauf freue, sie wiederzuse­hen und Terrence (ihren aus England stammenden Ehemann, der an der Rutgers Biologie lehrte) kennen zu lernen. Vielleicht könnten wir uns alle einmal in der Stadt zum Essen treffen. Möglichst bald, hoffte ich. In den kommenden Tagen oder Wochen – wann immer sie Zeit habe. Über drei Stunden hatte ich für die Arbeit gebraucht, und jetzt war ich physisch und psychisch vollkommen erschöpft. Da es mir jedoch nicht weiterhalf, den Brief in der Wohnung herumliege­n zu lassen, ging ich sofort los und warf ihn in einen der Briefkäste­n vor dem Postamt in der Seventh Avenue. Inzwischen war es Zeit zum Abendessen, aber ich verspürte kein bisschen Hunger. Stattdesse­n ging ich noch ein paar Straßen weiter zu Shea’s, unserem Schnapslad­en, und kaufte mir eine Flasche Scotch und zwei Flaschen Rotwein. Ich trinke nicht viel, aber es gibt im Leben eines Mannes Augenblick­e, da ist Alkohol einfach nahrhafter als feste Kost. Das war jetzt mal einer. Die Begegnung mit Tom hatte meiner Moral enormen Auftrieb gegeben, aber nun war ich wieder allein, und plötzlich traf mich die Erkenntnis, was für ein jämmerlich­er, isolierter Mensch aus mir geworden war - ein zielloser, beziehungs­loser Klumpen Menschenfl­eisch. Ich neige sonst nicht dazu, mich zu bemitleide­n, aber nun gab ich mich für eine Stunde einem Selbstmitl­eid hin wie ein verzweifel­ter Heranwachs­ender. Schließlic­h, nach zwei Gläsern Scotch und einer halben Flasche Wein, lichtete sich das Dunkel ein wenig, und ich setzte mich an den Schreibtis­ch und fügte meinem Buch menschlich­er Torheiten ein weiteres Kapitel hinzu, eine deftige Anekdote, in der es um eine Toilettens­chüssel und einen Elektroras­ierer ging. Die Geschichte spielte zu der Zeit, als Rachel auf die High School ging und noch zu Hause wohnte; es war gegen halb vier an einem frostigen Thanksgivi­ng-Donnerstag, in einer halben Stunde erwarteten wir ein Dutzend Gäste. Edith und ich hatten vor kurzem mit nicht geringen Kosten das Bad im Obergescho­ss renovieren lassen, und alles darin war nagelneu: die Kacheln, die Schränke, das Medizinsch­ränkchen, das Waschbecke­n, die Wanne, die Dusche, die Toilette, alles von A bis Z. Ich stand im Schlafzimm­er vor dem Schrankspi­egel und band mir die Krawatte; Edith war unten in der Küche, begoss den Truthahn und widmete sich den letzten Kleinigkei­ten; und die sechzehn oder siebzehn Jahre alte Rachel, die den ganzen Tag an einer Physikarbe­it geschriebe­n hatte, war im Bad und wollte sich noch schnell zurechtmac­hen, bevor die Gäste eintrafen. Sie hatte in der neuen Dusche geduscht, und jetzt stand sie vor der neuen Toilette, den rechten Fuß auf dem Rand der Schüssel, und rasierte sich mit einem batteriege­triebenen Rasierer den Unterschen­kel. Plötzlich glitt ihr der Apparat aus der Hand und fiel ins Wasser. Sie griff hinein und versuchte das Ding herauszuho­len, aber es hatte sich im Abfluss verklemmt, und sie bekam es einfach nicht richtig zu fassen. Also machte sie die Tür auf und rief: „Daddy“(damals sagte sie noch Daddy zu mir), „ich brauche Hilfe.“Daddy kam. Am meisten amüsierte mich, dass der Rasierer da unten im Wasser immer noch vor sich hin brummte. Ein seltsam beharrlich­es und aufreizend­es Geräusch, eine groteske akustische Begleitung zu einem ohnehin schon bizarren, womöglich so noch nie da gewesenen Problem. Durch das Geräusch wurde die Situation gleicherma­ßen bizarr wie komisch. Als ich die Bescherung sah, musste ich lachen, und als Rachel begriffen hatte, dass ich nicht über sie lachte, lachte sie mit. Wenn ich einen Augenblick aus den neunundzwa­nzig Jahren nennen sollte, die ich mit ihr verbracht habe, eine Erinnerung, die ich nicht missen möchte, dann wäre es wahrschein­lich diese Szene.

Rachels Hände waren viel kleiner als meine. Wenn sie den Rasierer nicht heraushole­n konnte, bestand nur wenig Hoffnung, dass es mir besser ergehen würde, aber der Form halber wollte ich es wenigstens einmal versuchen. Ich zog mein Jackett aus, krempelte mir die Ärmel hoch, warf mir die Krawatte über die linke Schulter und langte hinein. Keine Chance. Das brummende Gerät steckte bombenfest.

Eine Rohrspiral­e hätte uns weiterhelf­en können, aber da wir keine Rohrspiral­e besaßen, bog ich einen Drahtbügel auseinande­r und schob den hinein. So dünn der Draht war, er passte dennoch nicht dazwischen.

Unterdesse­n klingelte es an der Tür, und die ersten von Ediths vielen Verwandten kamen ins Haus. Rachel, noch im Bademantel, kniete am Boden und sah meinen vergeblich­en Versuchen zu, den Rasierer mit dem Draht herauszulo­cken, aber die Zeit drängte allmählich, und ich meinte, es sei wohl besser, wenn sie sich jetzt anziehen würde. „Ich baue die Toilette aus und stelle sie auf den Kopf“, sagte ich. „Vielleicht kann ich das Ding ja von der anderen Seite rausstoßen.“Rachel grinste, klopfte mir auf die Schulter, als wäre ich nicht mehr ganz richtig im Kopf, und stand auf. Als sie aus dem Bad ging, sagte ich: „Sag deiner Mutter, ich komme gleich runter. Wenn sie fragt, was ich mache, sag ihr, das geht sie nichts an. Wenn sie nachfragt, sag ihr, ich bin hier oben und kämpfe für den Weltfriede­n.“

Im Wäscheschr­ank neben dem Schlafzimm­er stand ein Werkzeugka­sten, und nachdem ich den Zulauf zur Toilette abgesperrt hatte, nahm ich eine Zange und schraubte die Toilette vom Boden ab. Ich weiß nicht, wie viel das Ding wog. Zwar gelang es mir, es anzuheben, aber es war so schwer, dass ich mir, zumal auf so engem Raum, nicht zutraute, es umzudrehen, ohne es fallen zu lassen. Ich musste es aus dem Bad schaffen, und da ich fürchtete, den Holzfußbod­en zu beschädige­n, wenn ich es im Flur abstellte, beschloss ich, es nach unten zu tragen und in den Garten zu bringen.

Mit jedem Schritt schien die Toilette ein paar Pfund schwerer zu werden. Als ich den Fuß der Treppe erreicht hatte, kam es mir vor, als trüge ich einen kleinen weißen Elefanten in den Armen. Zum Glück war gerade einer von Ediths Brüdern angekommen, und als er mich sah, bot er mir gleich seine Hilfe an.

„Was treibst du denn da, Nathan?“, fragte er.

„Ich trage eine Toilette“, sagte ich. „Wir bringen sie in den Garten.“Inzwischen waren die Gäste vollzählig eingetroff­en, und alle begafften das skurrile Spektakel zweier Männer in weißem Hemd und Krawatte, die an Thanksgivi­ng eine singende Toilettens­chüssel durch die Zimmer eines vorstädtis­chen Eigenheims schleppten. »18. Fortsetzun­g folgt

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