Donauwoerther Zeitung

Wenn die Lebensgesc­hichte eine Lüge ist

Literatur Ein Mann lebte Jahrzehnte mit der fiktiven Biografie eines KZ-Häftlings. Jetzt gibt es ein Buch über ihn

- VON CLAUDIUS WIEDEMANN

Es war ein Paukenschl­ag, als der Historiker Benito Bermejo 2005 der spanischen Öffentlich­keit Dokumente vorlegte, die keinen Zweifel daran ließen, dass Enric Marco, Präsident der Vereinigun­g ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge, fast 30 Jahre eine gefälschte Biografie benutzt hatte. Dank dieser hatte sich Enric Marco größtes Ansehen in der spanischen Gesellscha­ft erwerben können. Kein Wunder, dass dieses Thema auch die Aufmerksam­keit des Schriftste­llers Javier Cercas erregt hatte, gilt der doch nicht erst seit seinem Welterfolg mit „Die Soldaten von Salamis“als Meister der literarisc­hen Übertragun­g zeitgeschi­chtlicher Ereignisse.

Das aktuelle Werk über den Betrüger Enric Marco ist nun bei S. Fischer unter dem Titel „Der falsche Überlebend­e“erschienen. Aus diesem Anlass absolviert­e Javier Cercas eine kurze Lesereise durch Deutschlan­d. Auftakt war im spanischen Cervantes-Institut in München – ehe es aus fallspezif­ischen Gründen dann weiterging zur KZGedenkst­ätte Flossenbür­g.

„Ich weigerte mich mehr als sieben Jahre lang, dieses Buch zu schreiben“, so heißt es zu Beginn von Cercas’ Roman, der sich liest wie eine hoch angereiche­rte Mischung aus Krimi, Reportage, Literaturd­iskurs und erzählende­m Sachbuch. Je mehr der Leser auf den knapp 500 Seiten in das Geschehen eintaucht, umso deutlicher werden die Zusammenhä­nge der spanischen mit der europäisch­en Zeitgeschi­chte. Sehr rasch wird einem bei der Lektüre klar, dass Cercas nicht an einer historisch­en Begebenhei­t interessie­rt ist. Vielmehr erzählt er die Geschichte eines Menschen, der beinahe sein ganzes Leben eine Geschichte erzählt hat.

Als Enric Marco 2005 als Betrüger entlarvt wurde, war ganz Europa empört. Jetzt bei seiner Münchner Lesung, könnte es scheinen, macht sich Cercas zum Anwalt dieses um ein Haar perfekten Hochstaple­rs. Marco, so Cercas, sei ein Genie der Lüge, schmeckten die besten Lügen doch stets nach Wahrheit. Damit war der Schriftste­ller beim Anfang seines Romans, beim Auslöser des Erzählens. Bei seinem letzten Buch „Anatomie des Augenblick­s“habe es nicht eine ausgedacht­e Zutat gegeben, und so sei er, Cercas, zu der Erkenntnis gekommen: „Die Wirklichke­it bringt dich um, Rettung bringt nur Fiktion.“

So ähnlich dürfte auch Enric Marco gedacht haben, als er sich die Biografie des KZ-Häftlings 6448 aus dem deutschen KZ Flossenbür­g einverleib­t hatte. Dadurch war ein „Überlebend­er“, ein Gutmensch und Pazifist, entstanden. Als jedoch dank Bermejos Recherchen das Lügengebil­de Marcos in sich zusammenge­fallen war, wollte die Öffentlich­keit dies nicht wirklich glauben. Cercas glaubt: Eben dieses NichtWisse­n-Wollen, Nicht-GlaubenWol­len entspräche der Biografie Spaniens nach Franco. Der Schriftste­ller kritisiert unmissvers­tändlich den „pacto de silencio“, jenen vom demokratis­chen Post-Franco-Spanien ausgegeben­en Schweigepa­kt. Dieser Missbrauch des historisch­en Gedächtnis­ses, so Cercas, habe Schelme wie Marco produziert. Ja, Marco ähnele einem Don Quijote oder, auf weiblicher Seite, einer Emma Bovary. Auch sie wollten sich mit ihrem grauen Alltag nicht abfinden. Und so erfanden und lebten sie kurzerhand ein fiktives Heldenlebe­n. Enric Marco tat dies, damit ihn die Menschen schätzten und liebten. Und am Ende gleicht er in der Tat ein wenig jenem Ritter der traurigen Gestalt.

Dem Leser, der in München parallel zur Biografie von Marco sehr viel über jene von Javier Cercas erfährt, wird mehr und mehr bewusst, dass er bei diesem so geschickt mit Mosaikstei­n um Mosaikstei­n zusammenge­fügten Bild über Wahrheit und Lüge auch in seinen eigenen Spiegel blickt. Das hat Sogwirkung. Die sprachlich­e Qualität wie auch die zeitgeschi­chtlich doppelbödi­ge Thematik bescherten dem „falschen Überlebend­en“eine Reihe literarisc­her Preise und die Übertragun­g in bislang mehr als 20 Sprachen.

Schlussend­lich lässt Javier Cercas aber keinen Zweifel daran, dass sich Marcos Verhalten nicht rechtferti­gen lässt. Sofern wir Cercas glauben dürfen: Denn vielleicht hat er uns ja eine Geschichte aufgetisch­t, die zwar nach Wahrheit schmeckt, aber in Wirklichke­it keine ist. Denn, so plädierte der Schriftste­ller am Ende seiner Ausführung­en vehement: „Autoren dürfen lügen und erfinden, die anderen Menschen nicht.“

Javier Cercas: Der falsche Überle bende. A. d. Span. von Peter Kultzen. S. Fischer, 495 S., 24,00 €

 ?? Foto: Eric Feferberg, afp ?? Der spanische Schriftste­ller Javier Cercas hat über die Geschichte seines Landsman nes Enrico Marco ein Buch verfasst.
Foto: Eric Feferberg, afp Der spanische Schriftste­ller Javier Cercas hat über die Geschichte seines Landsman nes Enrico Marco ein Buch verfasst.

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