Paul Auster: Die Brooklyn Revue (21)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Aber was war mit ihrem Vater, müsste eigentlich nicht er seine Tochter zum Altar führen? Schon möglich, sagte Aurora, aber der interessiere sich für sie beide nicht, oder? Der sei zu sehr mit seiner neuen Frau und den neuen Kindern beschäftigt, und außerdem sei er zu geizig, den Flug von L. A. nach Philadelphia zu bezahlen. Nein, sagte sie, Tom sei der Richtige. Tom und sonst niemand. Er bat sie, ihm etwas mehr von David Minor zu erzählen, aber sie äußerte sich nur in vagsten Gemeinplätzen, was darauf hinzudeuten schien, dass sie nicht so viel über ihren künftigen Mann wusste, wie sie hätte wissen sollen. David liebe sie, er respektiere sie, er sei nett zu ihr und so weiter; aber nichts in diesen Phrasen war handfest genug, dass Tom sich ein Bild von dem Mann machen konnte. Dann senkte Aurora die Stimme fast zu einem Flüstern und fügte hinzu: „Er ist sehr religiös.“
„Religiös? Auf welche Religion bezieht sich das?“, fragte Tom und
gab sich Mühe, nicht allzu beunruhigt zu erscheinen.
„Das Christentum. Na ja, Jesus und so.“
„Was heißt das genau? Ist er Angehöriger einer bestimmten Konfession, oder reden wir von einem spätberufenen Fundamentalisten?“„Spätberufen, nehme ich an.“„Und was ist mit dir, Rory? Glaubst du daran?“
„Ich versuch’s, aber ich bin wohl nicht sehr gut in so was. David sagt, ich muss Geduld haben, eines Tages gehen mir die Augen auf, und ich sehe das Licht.“
„Aber du bist zur Hälfte Jüdin. Nach jüdischem Gesetz bist du zur Gänze Jüdin.“„Ich weiß. Wegen Mom.“„Und?“„David sagt, das spielt keine Rolle. Jesus war auch Jude, und er war Gottes Sohn.“
„David scheint ja viel zu sagen. Hat er dich auch dazu gebracht, dir die Haare zu schneiden und dich anders anzuziehen?“
„Er zwingt mich nie zu irgendetwas. Ich hab das getan, weil ich es wollte.“„Mit Davids Unterstützung.“„Für eine Frau ziemt sich Bescheidenheit. David sagt, das fördert meine Selbstachtung.“„David sagt.“„Bitte, Tommy, sei lieb. Ich weiß, du magst so was nicht, aber ich habe endlich Aussicht auf ein wenig Glück gefunden, und das will ich mir nicht durch die Finger rinnen lassen. Wenn David will, dass ich mich so anziehe - na und? Früher bin ich rumgelaufen wie eine Schlampe. Das hier ist besser für mich. Ich fühle mich sicherer, ordentlicher. Nach dem ganzen Mist, den ich gebaut habe, bin ich froh, dass ich noch am Leben bin.“
Tom hielt sich zurück und schlug einen anderen Ton an, und als sie später unter heftigen Umarmungen und aufrichtigen Küssen voneinander Abschied nahmen, schworen sie sich, den Kontakt nie mehr abreißen zu lassen. Tom war überzeugt davon, dass Aurora es diesmal ernst meinte, doch der Tag der Hochzeit rückte näher, und er hatte immer noch keine Einladung erhalten - keinen Brief, keinen Anruf, keine Nachricht, nichts. Als er die Nummer mit der Vorwahl von Philadelphia anrief, die sie ihm beim Essen auf eine Papierserviette gekritzelt hatte, erklärte ihm eine Automatenstimme, dass der Anschluss nicht mehr in Betrieb sei. Dann versuchte er sie über die Auskunft aufzuspüren, aber nicht einer von den drei David Minors, mit denen er sprach, hatte je von einer Aurora Wood gehört.
Wie zu erwarten, gab Tom sich selbst die Schuld daran. Wahrscheinlich hatte er Aurora mit seinen abfälligen Bemerkungen über die Frömmigkeit ihres Verlobten verletzt, und wenn sie ihm von ihrem atheistischen Bruder in New York erzählt hatte, hatte er ihr womöglich verboten, ihn zur Hochzeit einzuladen. Das wenige, was Tom über Minor gehört hatte, ergab genau das Bild eines solchen Mannes: einer dieser anmaßenden Eiferer, die anderen immerzu Vorschriften machen müssen, ein scheinheiliger Saukerl.
„Seither was von ihr gehört?“, fragte ich.
„Nichts“, sagte Tom. „Diese letzte Begegnung war vor ungefähr drei Jahren, und ich habe keine Ahnung, wo sie steckt.“
„Was hältst du von der Telefonnummer, die sie dir gegeben hat? Meinst du, die war echt?“
„Rory hat manche Fehler, aber eine Lügnerin ist sie nicht.“
„Falls die beiden umgezogen sind, hättest du sie vielleicht über die Mutter erreichen können.“
„Hab ich versucht, ebenfalls vergeblich.“„Seltsam.“„Nicht unbedingt. Vielleicht heißt sie ja gar nicht mehr Minor. Auch Ehemänner können sterben. Oder sie sind längst geschieden. Und sie hat nochmal geheiratet und trägt jetzt den Namen ihres zweiten Mannes.“
„Das tut mir sehr Leid für dich, Tom.“
„Nicht doch. Das ist es nicht wert. Wenn Rory mich sehen wollte, würde sie anrufen. Ich hab mich inzwischen ziemlich damit abgefunden. Natürlich fehlt sie mir, aber was soll ich denn sonst noch machen?“
„Und dein Vater? Wann hast du den das letzte Mal gesehen?“
„Vor ungefähr zwei Jahren. Er war in New York wegen eines Artikels, an dem er schrieb, und hat mich zum Essen eingeladen.“„Und?“„Na, du kennst ihn ja. So richtig reden kann man mit ihm nicht.“
„Und die Zorns? Hast du zu denen noch Kontakt?“
„Gelegentlich. Philip lädt mich jedes Jahr zu Thanksgiving nach New Jersey ein. Solange er mit meiner Mutter verheiratet war, habe ich ihn nicht besonders gemocht, aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Ihr Tod hat ihn wirklich schwer getroffen, und als ich begriff, wie sehr er sie geliebt hatte, konnte ich ihm nicht mehr böse sein. Jetzt sind wir ganz gut befreundet, wir respektieren uns. Mit Pamela ist es genauso. Ich hatte sie immer für eine hirnlose Wichtigtuerin gehalten, für eine dieser Frauen, die sich nur dafür interessieren, welches College man besucht und wie viel Geld man verdient, aber sie scheint sich mit den Jahren gebessert zu haben. Sie ist jetzt fünfunddreißig oder sechsunddreißig und mit einem Anwalt verheiratet, die beiden leben mit ihren zwei Kindern in Vermont. Wenn du mich dieses Jahr zu Thanksgiving nach New Jersey begleiten willst, werden sie dich sicher gern kennen lernen.“
„Ich denk drüber nach, Tom. Du und Rachel, ihr reicht mir fürs Erste an Familie. Noch ein Ex-Verwandter mehr, und ich halt’s nicht mehr aus.“
„Wie geht’s Cousine Rachel eigentlich? Ich hab mich noch gar nicht erkundigt.“
„Gute Frage, mein Junge. Ihr selbst geht es anscheinend gut. Guter Job, anständiger Mann, schöne Wohnung. Aber wir hatten vor ein paar Monaten eine kleine Meinungsverschiedenheit, und die Sache ist noch längst nicht ausgebadet. Mit einem Wort, es kann gut sein, dass sie nie mehr mit mir reden will.“