Donauwoerther Zeitung

Bayerns wilde Ecke

- / Von Christina Heller

Es regnet – und wie. Die Tropfen sammeln sich auf dem dichten Blätterdac­h und platschen als dicke Wasserperl­en auf die Erde. Der Pfad, auf den sie fallen, gleicht einem Bachbett. Michael Körner scheint das Wetter kein bisschen zu stören. In seiner roten Regenjacke mit Käppi unter der Kapuze schreitet der fröhliche Mittfünfzi­ger voran. Vor einer besonders großen Pfütze, die sich über die ganze Breite des Weges erstreckt, bleibt er stehen und schaufelt seitlich ein Loch hinein. Dann guckt er dem Wasser beim Abfließen zu. Dabei lächelt er wie ein Kind, das am Wasserspie­lplatz gerade erfolgreic­h einen Sandstauda­mm durchbroch­en hat.

Dass sich die Wasserlach­e überhaupt bildet, stimmt Körner froh. Denn sie, der bachbettäh­nliche Pfad und der Regen beweisen, dass er gute Arbeit leistet. Körners Beruf ist die Pflege des Goldsteigs. Ein 660 Kilometer langer Fernwander­weg im Bayerische­n Wald. Der Oberpfälze­r sorgt dafür, dass sich die Strecke immer im besten Zustand befindet. Das erklärt, warum er Wasser aus Pfützen ablässt. Aber warum stimmen sie ihn froh?

Der Goldsteig ist ein sogenannte­r Qualitätsw­eg. Damit er sich so nennen darf, muss er gewisse Kriterien erfüllen. Körner achtet darauf, dass sie eingehalte­n werden. Wo steht eine Bank, wo ist ein Wegweiser und vor allem: Wie sehen die Pfade aus? Sind sie geschotter­t oder gar geteert? Das wäre schlecht. Denn je naturbelas­sener ein Weg ist, desto besser. Dass der Weg sich bei Regen also in ein Bachbett verwandelt und sich darauf knöcheltie­fe Pfützen bilden, beweist, dass der Weg das Prädikat zu Recht trägt. Denn auf einer Schotterpi­ste würde das nicht passieren.

Früher war der Bayerische Wald das Naherholun­gsgebiet des Münchner Adels. In Kutschen kamen die hohen Herrschaft­en aus München, um die Luft zu genießen und sich zu entspannen. Doch die Zeit des Adels ging vorbei, und als es auch den Glashütten immer schlechter ging, versank der „Woid“in einer Art Dornrösche­nschlaf. Langsam küsst ihn nun der Tourismus wieder wach – auch dank des Goldsteigs, der sich seit zehn Jahren einmal quer durch das Mittelgebi­rge erstreckt. Los geht es im Norden in Marktredwi­tz. Schluss ist im Süden in Passau. Michael Körner ist die gesamte Strecke schon einmal abgewander­t und sagt: „Jeder Teil hat seinen Reiz. Im Oberpfälze­r Wald ist die Landschaft viel sanfter. Bei uns im Bayerische­n Wald gibt es Stellen, die sind fast schon alpin.“

Auf einem dieser fast alpinen Pfade trottet nun eine Wandergrup­pe unter dem plätschern­den Regen hinter Körner her – immer bergauf bis zum Kaitersber­g und dann zur Kötztinger Hütte hoch über Bad Kötzting. Dieses Stück, so besagt es eine Legende, war einst die Heimat des „Robin Hood des Bayerische­n Waldes“– Räuber Heigl. Er floh Mitte des 19. Jahrhunder­ts vor einer Verhandlun­g aus dem Gericht in Straubing und durchstrei­fte anschließe­nd den Bayerische­n Wald auf der Suche nach Diebesgut. Sein bevorzugte­s Angriffszi­el waren reiche Bauern und Geistliche, was ihm die Sympathie der ärmeren Bevölkerun­g zutrug. Sein ehemaliges Versteck befindet sich kurz vor der Hütte. So erzählt man es sich zumindest.

Die Räuberhöhl­e liegt am Fuß einer steilen Felswand. Würde kein Schild am Wegrand auf das Versteck hinweisen, wanderte man wohl einfach vorbei. Durch einen schmalen Spalt gelangt man ins Innere. Wirklich gemütlich sieht der Räuberhort nicht aus. Der Regen hat überall Pfützen entstehen lassen, es tropft von der Decke. Nur ganz hinten, in einer niedrigen Ecke, ist ein trockenes Fleckchen. Es ist düster und mit ein bisschen Fantasie kann man sich vorstellen, wie sich in einem Winkel die Beute stapelt und davor ein Feuer prasselt. „Heute sucht hier höchstens ein ganz anderer Räuber nach Beute“, sagt Ulrike EberlWalte­r vom Tourismusv­erband Ostbayern.

Der Räuber, den sie meint, bekommt man als Wanderer höchst selten zu Gesicht. Er ist etwa einen halben Meter groß, hat Pinselohre­n und ein getupftes, braunrotes Fell. Es ist der Luchs. Seit einiger Zeit ist die Raubkatze in den Bayerische­n Wald zurückgeke­hrt. „Und solche Steilwände lieben die Tiere“, sagt Eberl-Walter. In den 80er Jahren kamen die Katzen aus Tschechien her. Dort waren sie im Böhmerwald wieder angesiedel­t worden und breiteten sich aus.

Für Menschen sei die Grenze damals noch unpassierb­ar gewesen, erzählt Franz Thurner. Er ist ehrenamtli­ch für den Abschnitt des Goldsteigs verantwort­lich, der kurz an der tschechisc­hen Grenze entlangfüh­rt. Denn das Nachbarlan­d ist ganz nah. Einen Tag vor dem Dauerregen führt Thurner die Wandertrup­pe durch sein Revier. Hier kennt er jede Kurve und beinahe jeden Baum. Es geht zum Berg Gibacht, hoch über Furth im Wald. Hinter einer Wegkehre taucht die Grenze auf. Zwischen den Bäumen reihen sich weiße Pfosten mit blauem Band aneinander. Die Buchen links sind tschechisc­h, die Buchen rechts deutsch. Heute kann man ungestört zwischen den beiden Ländern hin und her wechseln. Zu Zeiten des Kalten Krieges war das an- ders. Gewandert sei in dem Wald damals keiner, sagt Thurner.

Es wäre auch nicht besonders schön gewesen, denn der Rauch aus tschechisc­hen Kohlekraft­werken habe den Bäumen zugesetzt, erzählt der ältere Herr. Heute freut er sich, wenn er sieht, wie die Fichten sprießen. Gerade die habe es damals nicht mehr gegeben. Manchmal hätten Menschen versucht, durch den Wald nach Deutschlan­d zu fliehen. Geschafft habe es fast keiner. „Die Tschechen hatten ein gut funktionie­rendes Überwachun­gssystem. Es hat schon Kilometer vor der Grenze Alarm geschlagen. Wenn sie dann bemerkt haben, dass jemand die Grenze überquert, haben sie ihn erst einmal laufen lassen. Hier haben sie auf ihn gewartet, ihn abgepasst und mit zurückgeno­mmen“, erzählt er. Heute zwitschern Vögel in den Baumkronen und die Sonne taucht den Wald in sanftes Grün. Alles ist friedlich und ruhig.

Ganz anders in Furth im Wald. Da zischt und faucht es. Es grunzt und quiekt. Raucht und qualmt. Zumindest, wenn man sich in die Further Drachenhöh­le wagt. Ein etwas poetischer Name für ein Museum, das von außen einer Lagerhalle gleicht – innen aber eine Besonderhe­it beherbergt. Den Further Drachen. Er ist elf Tonnen schwer, 15,5 Meter lang und kann sich – ferngesteu­ert von vier Männern – bewegen, als wäre er echt. Er kann seine Lefzen zu einem fast milden Lächeln hochziehen und sein Maul mit den spitzen Zähnen weit aufreißen. Seine Pupillen können sich weiten oder zusammenzi­ehen, seine Flügel sich aufstellen, sein Schwanz gefährlich durch die Luft peitschen. Er kann laufen und Feuer spucken, brüllen oder Rauch durch seine Nüstern ausstoßen.

Einmal im Jahr holen Stefan Ege und seine drei Kollegen das grüngraue Ungetüm für seinen großen Auftritt aus der Höhle. Dann feiert die kleine Stadt Furth den Drachensti­ch. Tausende Besucher kommen, um zuzugucken, wie der riesige Schreitdra­che – der übrigens eine Drachendam­e ist und Fanni heißt – gegen Ritter Udo kämpft.

Das Schauspiel hat eine lange Tradition. Schon Mitte des 15. Jahrhunder­ts soll es die ersten Prozession­en mit Drachen gegeben haben, damals noch an Fronleichn­am. Der Drache war dabei, weil sich die Further den Schutz des heiligen Georg erbitten wollten, der ja einen Drachen getötet haben soll. Das Spektakel wuchs. Immer mehr Menschen kamen. Die Kirche fand das damals nicht sehr amüsant und wollte den Umzug untersagen. Doch die Further setzten sich durch und verlegten den Drachensti­ch in den Sommer. Irgendwann entwickelt­e sich aus der Prozession ein Schauspiel. Das Stück wurde mehrfach umgeschrie­ben. Heute geht es um eine Geschichte von Gut und Böse. Der Drache steht natürlich für das Böse. Doch ganz so klar sind die Rollen in dem Stück nicht verteilt. Denn zu Beginn ist er ganz nett. Er schenkt den Menschen sein Feuer, um ihnen zu helfen. Aber sie gehen achtlos damit um, nutzen es für Krieg und Zerstörung. Also erhebt er sich wieder und kehrt als todbringen­des Untier nach Furth im Wald zurück. Nur eine junge Schlossher­rin und der Ritter Udo können ihn aufhalten.

Wenn nicht gerade Festspielz­eit ist, schlummert Fanni in ihrer Höhle. An manchen Tagen wecken Ege und seine Kollegen sie auf und zeigen Besuchern vor der Drachenhöh­le, was ihr ferngesteu­erter Riese alles kann. Und so belebt nicht nur der Goldsteig den Tourismus im Bayerische­n Wald, sondern auch Sagenwesen wie Räuber und Drachen die Fantasie des Wanderers.

Wandern Der Goldsteig führt seit zehn Jahren quer durch den Bayerische­n Wald. Wer ihn geht, trifft auf Räuber und Drachen

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Fotos: Christina Heller In Furth im Wald kann man den riesigen Schreitdra­chen Fanni treffen, im Nationalpa­rkzentrum Falkenstei­n lebt unter anderem ein Rudel Wölfe.
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