Paul Auster: Die Brooklyn Revue (25)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nancys Werkstatt befand sich in einem hinteren Raum im Erdgeschoss des Hauses, die Fenster gingen auf einen Garten, der freilich eher ein winziger Spielplatz als ein Garten war, in einer Ecke eine Schaukel, in einer anderen eine Plastikrutsche, dazwischen jede Menge Spielzeug und Gummibälle. Während ich mir die verschiedenen Ringe, Ketten und Ohrringe ansah, die sie zu verkaufen hatte, plauderten wir ziemlich entspannt über Gott und die Welt.
Man konnte gut mit ihr reden; sie war sehr offen, sehr weitherzig, eine durch und durch freundliche Person - nur leider nicht sehr klug, wie ich bald erkannte, denn sie glaubte eifrig an Astrologie, an die Macht der Kristalle und alle möglichen anderen New-Age-Mätzchen. Na schön. Niemand ist vollkommen, wie es in dem alten Film heißt – nicht einmal die Schöne perfekte Mutter. Wirklich schade für Tom, dachte ich. Er wäre schwer enttäuscht, wenn es ihm je gelänge, ein ernsthaftes Gespräch
mit ihr anzufangen. Andererseits war es so vielleicht auch besser.
Einige wesentliche Tatsachen ihres Lebens hatte ich herausgefunden, und nun war ich neugierig, ob meine anderen Holmes’schen Schlussfolgerungen ebenfalls zutrafen oder nicht. Ich fragte sie daher weiter aus - nicht sehr gezielt, sondern möglichst unauffällig, immer nur dann, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Die Ergebnisse waren nicht ganz einheitlich. Richtig vermutet hatte ich, was ihre schulische Ausbildung betraf (Public School 321, Midwood High, Brooklyn College, das sie nach zwei Jahren abbrach, um ihr Glück als Schauspielerin zu versuchen, woraus aber nichts wurde), als falsch hingegen erwies sich meine Annahme, dass sie das Haus von ihren verstorbenen Eltern geerbt hatte.
Ihr Vater war tot, ihre Mutter aber noch sehr lebendig. Sie bewohnte das größte Zimmer im obersten Stockwerk, fuhr jeden Sonntag mit dem Fahrrad im Prospect Park spazieren und arbeitete mit achtundfünfzig noch immer als Sekretärin einer Anwaltskanzlei in Midtown Manhattan. So viel zu meinem unfehlbaren Genie. So viel zu Glass’ untrüglichem Blick.
Nancy war seit sieben Jahren verheiratet, ihren Mann nannte sie mal Jim, mal Jimmy. Als ich fragte, ob er Mazzucchelli heiße oder ob sie ihren Mädchennamen behalten habe, lachte sie und sagte, dass er ein waschechter Ire sei. Na ja, antwortete ich, immerhin fangen Italien und Irland beide mit I an. Auch darüber musste sie lachen, und lachend erzählte sie mir, der Vorname ihrer Mutter sei identisch mit dem Nachnamen ihres Mannes.
„Oh“, sagte ich. „Und wie lautet dieser Name?“„Joyce.“„Joyce?“Ich unterbrach mich kurz, ein wenig verwirrt. „Sie wollen mir sagen, Sie sind mit einem Mann namens James Joyce verheiratet?“
„Mhm. Genau wie der Schriftsteller.“„Unglaublich.“„Das Komische ist, dass Jims Eltern sich kein bisschen für Literatur interessieren. Die hatten von James Joyce noch nie gehört. Sie haben Jim nach dem Vater seiner Mutter benannt, James Murphy.“
„Na, hoffentlich ist Ihr Jim kein Schriftsteller. Mit dem Namen ist es bestimmt kein Spaß, ein Buch herauszubringen.“
„Nein, nein, mein Jim schreibt nicht. Er ist Geräuschemacher.“„Was?“„Geräuschemacher.“„Darunter kann ich mir gar nichts vorstellen.“
„Er macht Geräusche für Filmproduktionen. Nachträglich. Die Mikrophone erfassen bei den Dreharbeiten ja nicht alles. Und dann braucht der Regisseur zum Beispiel das Geräusch von Schritten auf einem Kiesweg, verstehen Sie?
Oder wie jemand ein Buch umblättert oder eine Schachtel Kekse aufmacht – und das tut Jimmy. Ein cooler Job. Sehr anspruchsvoll, sehr interessant. Es ist wirklich harte Arbeit, so etwas richtig hinzubekommen.“
Als Tom und ich uns um eins zum Essen trafen, teilte ich ihm pflichtgetreu alles mit, was ich von Nancy in Erfahrung hatte bringen können. Er war ungewöhnlich guter Laune und dankte mir mehr als einmal, dass ich vorhin die Initiative ergriffen und ihn so gezwungen hatte, der S. p. M. von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
„Ich war mir nicht sicher, wie du reagieren würdest“, sagte ich. „Als ich auf der anderen Straßenseite ankam, war ich überzeugt, du bist wütend auf mich.“
„Du hast mich überrumpelt, das ist alles. Du hast etwas Gutes getan, Nathan, das war mutig, ganz großartig.“„Das will ich hoffen.“„Ich hatte sie noch nie aus solcher Nähe gesehen. Sie ist absolut umwerfend, findest du nicht?“
„Ja, sehr hübsch. Das hübscheste Mädchen im ganzen Viertel.“
„Und freundlich. Das vor allem. Die Freundlichkeit strömt ihr aus allen Poren. Das ist keine von diesen hochnäsigen, unnahbaren Schönheiten. Sie mag die Menschen.“„Eine unkomplizierte Frau.“„Ja, genau. Unkompliziert. Jetzt fühle ich mich nicht mehr eingeschüchtert. Wenn ich sie das nächste Mal sehe, kann ich Hallo zu ihr sagen und mit ihr reden. Mit der Zeit könnten wir vielleicht sogar Freunde werden.“
„Ich möchte dir deine Illusionen nicht nehmen, aber seit ich heute früh mit ihr gesprochen habe, glaube ich kaum, dass ihr sonderlich viel gemeinsam habt. Ja, sie ist ein reizendes Geschöpf, aber in ihrem Oberstübchen spielt sich nicht viel ab, Tom. Sie ist bestenfalls durchschnittlich intelligent. Hat das College abgebrochen. Kein Interesse an Büchern oder Politik. Wenn du sie fragst, wie unsere Außenministerin heißt, wird sie dir keine Antwort geben können.“
„Na und? Ich habe wahrscheinlich mehr Bücher gelesen als jeder andere hier in diesem Restaurant, und was hat es mir genützt? Intellektuelle sind doof, Nathan. Die langweiligsten Leute der Welt.“
„Schon möglich. Aber sie wird als Erstes dein Sternzeichen wissen wollen. Und dann wirst du dich zwanzig Minuten lang mit ihr über Horoskope unterhalten müssen.“„Das ist mir egal.“„Armer Tom. Du bist wirklich sehr in sie verknallt, oder?“„Ich kann doch nichts dafür.“„Und wie soll es weitergehen? Willst du sie heiraten, oder soll es nur eine gute alte Affäre werden?“
„Wenn ich nicht irre, ist sie bereits verheiratet.“
„Kleinigkeit. Wenn du ihn loswerden willst, brauchst du es nur zu sagen. Ich habe gute Beziehungen, Junge. Aber für dich würde ich den Job wahrscheinlich selbst übernehmen. Ich sehe schon die Schlagzeilen. EX-LEBENSVERSICHERUNGSVERTRETER ERMORDET JAMES JOYCE.“„Ha ha.“„Eins muss ich deiner Nancy aber lassen. Sie macht sehr schönen Schmuck.“
„Hast du die Kette dabei?“»26. Fortsetzung folgt