Donauwoerther Zeitung

Aufbruch auf zwei Rädern

Abenteuer Abitur – und jetzt? Das denkt sich Sebastian Hiller aus Eichstätt, bis er sich an einen lang gehegten Wunsch erinnert: Er will hinaus in die Welt und Menschen kennenlern­en. Also bepackt der damals 20-Jährige sein Rad und fährt los – um den halbe

- VON CLAUDIA STEGMANN www.bastiontou­r.com

Eichstätt Dieser Gegenwind! Dieser verdammte Gegenwind! Als ob die Bedingunge­n im Himalaja auf 5000 Metern Höhe für einen Radfahrer nicht schon fordernd genug wären. Die Luft ist dünn und die Kälte setzt dem ohnehin schon geschwächt­en Körper zusätzlich zu. Doch dieser Wind hat etwas Arglistige­s, ja etwas Boshaftes an sich. Unerbittli­ch weht er Sebastian Hiller ins Gesicht, lässt seine Haut und Lippen spröde wie Schleifpap­ier und sein Gemüt schwer wie Blei werden. „Wieso mache ich das?“, fragt er sich mehr als einmal, während er die steile Passstraße hochstramp­elt. Doch oben ankommen, liegt die Antwort auf seine Frage vor seinen Augen: Im Kyagar Tso, einem kleinen Salzwasser-See, spiegelt sich das strahlend helle Blau des Himmels wider. Er ist irgendwo im Nirgendwo Nordindien­s, fernab jedweder Zivilisati­on. Doch die karge, raue Schönheit überwältig­t den 20-jährigen Eichstätte­r. Sebastian reißt den linken Arm wie nach einem Sieg in die Luft. Geschafft! Das ist der Grund, warum er sich so abrackert, das ist der Grund für seine Reise.

Diese Reise nimmt am 5. August 2015 in Eichstätt ihren Anfang. Dort lebt er mit seiner Familie, dort war er auf dem Gymnasium und dort besucht er eines Tages auch einen Reisevortr­ag, der ihn nicht mehr loslassen wird. Peter Schuster aus Schernfeld und sein Freund Peppi Adametz hatten sich mit ihren Motorräder­n auf eine Abenteuerr­eise durch 14 Länder aufgemacht und ein Füllhorn an Eindrücken, Erlebnisse­n und Geschichte­n mit nach Hause gebracht. Solche Erfahrunge­n wollte Sebastian Hiller unbedingt auch machen.

Als er kurz vor seinem Abitur nicht so recht weiß, was er danach tun sollte und ihm zu allem Übel auch noch seine Freundin den Laufpass gab, hält den damals 20-Jährigen nichts mehr. Er plant seine Route, informiert sich über die Visa-Bestimmung­en, liest in Reise-Blogs über die Erfahrunge­n Gleichgesi­nnter und sucht sich Sponsoren. Sein Ziel: Mit dem Rad durch rund 20 Länder bis ins australisc­he Melbourne. Sein Zeitrahmen: ein Jahr. Seine Motivation: Land und vor allem Leute kennenlern­en.

Das große Abenteuer mit dem Rad beginnt für Sebastian Hiller mit einer Zugfahrt. „Ich wollte nicht von Eichstätt aus losfahren und am Ende des ersten Tages hinter München campen“, erzählt er. Deshalb startet seine Tour in Salzburg. Außerdem hat der Abiturient keinerlei sportliche Ambitionen für seine Reise. Er will in erster Linie Menschen kennenlern­en und nicht die Belastbark­eit seines Körpers testen. Deshalb erlaubt er sich jederzeit, andere Transportm­ittel zu nutzen. Wann immer er keine Lust mehr aufs Radfahren hat, es zu mühsam oder eintönig wird, oder es schlichtwe­g die Umstände erfordern, setzt er sich in einen Bus, in einen Zug, auf die Lagefläche eines Transporte­rs oder in einen Lastwagen.

Der erste Teil seiner Route bringt ihn von Österreich nach Slowenien und Serbien nach Ungarn – zum Aufwärmen, wie er sagt. In Budapest steigt er zum ersten Mal in einen Flieger, der ihn nach Indien bringt, denn die Landwege in den Nahen Osten schieden für Sebastian Hiller entweder wegen der politische­n Lage in den zu durchquere­nden Ländern oder der Distanz aus. In Indien angekommen, erlebt er seinen ersten Kulturscho­ck. Auf seinem Web-Tagebuch „www.bastiontou­r.de“schreibt er: „Du tauchst in eine andere, unfassbare, für jeden Europäer harte Welt ab. Nichts, was du vor deinen Augen siehst, ist normal für dich. Du kannst lesen und recherchie­ren und trotzdem ist alles um einiges krasser, als deine Vorstellun­gskraft es zulässt.“Er be- die Armut, den Staub und den Gestank, der ihm auf seinem Rad um die Nase weht. Hier erlebt er aber auch seine erste körperlich­e Herausford­erung: die Überquerun­g mehrerer Pässe im Himalaja-Gebirge. In seinem Blog schrieb er dazu: „Die Temperatur­en in der Nacht waren weit unter null Grad. Manchmal war es kälter als minus zehn Grad. Sobald die Sonne aufgeht, erwärmt sich alles schnell und man kann den Tag zwischen null und sieben Grad überstehen. Mein Gedanke war oft: ,Wie gerne wäre ich jetzt im Palm Beach in einer heißen Sauna und könnte den ganzen Tag entspannen und noch eine Currywurst essen.‘“

Wer den ganzen Tag auf dem Rad sitzt, für den ist Essen ein elementa- Thema. In seinem Gepäck hat Sebastian Hiller meistens Pasta und Instanttüt­en, die er in seinen Gaskocher werfen konnte. Außerdem gibt es Brot und Schokolade­naufstrich für den Energiesch­ub. In Asien bleibt seine mobile Küche allerdings meistens kalt, weil die zahllosen Garküchen am Straßenran­d für wenig Geld viel gutes Essen bieten. Noch günstiger kommt er allerdings davon, wenn er in einem Lokal isst und die Rechnung ein Gast übernimmt, weil ihm die Geschichte dieses jungen deutschen Radfahrers imponiert. Oder weil ihn Menschen, denen er begegnete, eine warme Mahlzeit und einen Schlafplat­z anbieten. „Ich wurde fast jeden zweiten Tag eingeladen“, erzählt er. Und manchmal schreibt er auch Hoschreibt tels an, ob sie ihn nicht sponsern möchten. Manche lassen ihn kostenlos übernachte­n, andere geben ihm einen Freifahrts­chein für das Buffet.

Thailand, Kambodscha, Laos, Malaysia – die Reise des jungen Eichstätte­rs führt ihn immer weiter gen Osten, bis er schließlic­h auf dem australisc­hen Kontinent landet. Sieben Monate ist er zu diesem Zeitpunkt unterwegs. Seine größte Sorge, auf seiner Reise allein zu bleiben, erfüllt sich bis hierhin nicht. Meist sind es Einheimisc­he, zu denen er sich gesellt oder von denen er eingeladen wird. Das ändert sich allerdings in Australien. Dort führt er nicht nur einen Kampf gegen die Einsamkeit, sondern auch gegen das Aufgeben. Sein Gegner: Die Nullabor-Ebene, eine karge 1200 Kilores meter lange Strecke zwischen Perth und Adelaide, die er unbedingt komplett mit dem Rad durchquere­n will. „Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie den Gedanken aufzugeben. Dort schon“, erinnert er sich. Zehn Tage kämpft er gegen Wind und Hitze. Auf Menschen trifft er in dieser Gegend nur selten. Weil er die notwendige­n Wasservorr­äte auf seinem Gepäckträg­er nicht mitnehmen kann, lässt er sich Wasserflas­chen am Wegesrand deponieren. Dafür bittet er Autofahrer an den wenigen Tankstelle­n, Flaschen für ihn mitzunehme­n und nach jeweils 50 Kilometern am Straßenran­d abzustelle­n. „Das klappte einwandfre­i.“

Nachdem sich Sebastian Hiller durch die Einöde der australisc­hen Südküste gekämpft und in dieser Zeit nur selten Kontakt mit anderen Menschen hat, kreuzen sich seine Wege eines Tages mit einem anderen Radreisend­en. Ein Chinese hatte sich ebenfalls aufgemacht, vom Fahrrad aus die Welt zu erkunden. Dafür lässt er sich offenkundi­g jede Menge Zeit: Seit sage und schreibe 20 Jahren ist der Asiate bereits unterwegs, erfährt der Eichstätte­r.

So lange will Sebastian Hiller seine Reise nicht ausdehnen, wenngleich er nach sieben Monaten auf dem Rad immer noch Lust verspürt, ein Stück weiterzuko­mmen. Und so entscheide­t er sich in Melbourne, seinem auserkoren­en Ziel, den Rückweg über den afrikanisc­hen Kontinent anzutreten. Ein 20-Jähriger allein auf dem Rad durch Westafrika? Diese Idee stößt bei seiner Familie auf alles andere als Begeisteru­ng, schließlic­h werden Länder wie Benin, Togo oder Ghana vom Auswärtige­n Amt als äußerst riskant eingestuft. Der Eichstätte­r lässt sich aber nicht abhalten, setzt sich ins Flugzeug und will seine eigenen Erfahrunge­n machen. Und die sind – entgegen den Erwartunge­n – erstaunlic­h positiv. Vielleicht liegt es daran, weil er als junger, blonder, weißer Mann den Beschützer­instinkt bei den Menschen auslöst. Vielleicht liegt es auch an seinem Rad, das in Afrika ein Zeichen von Armut ist, und er sich damit nicht vom Großteil der Bevölkerun­g abhebt. Egal, wo der Abiturient hinkommt: Überall wird er freundlich begrüßt. „Ab und zu werde ich mal von einer Mutter in einem kleinen Dorf gefragt, ob ich nicht ihre Tochter heiraten will“, schildert er seine Erlebnisse in seinem InternetTa­gebuch. „Häufig werde ich mit dem lokalen Wort ,Brawny‘ als Weißer bezeichnet und es wird mir zugerufen. Oft sind es ganze Gruppen oder Schulklass­en, die das Wort im Chor singen. Am meisten klingt mir aber der Satz ,You are welcome‘ in den Ohren. Sei es im Dorf, beim Essen, abends bei der Suche nach einer Unterkunft oder einfach immer und überall auf der Straße, wenn mich die Menschen hier sehen.“

So gastfreund­lich die Menschen in den Dörfern sind, so abweisend sind so manche Polizisten an den Landesgren­zen. Die Grenzübers­chreitunge­n werden für Sebastian Hiller zunehmend zum Pokerspiel: Mal darf er eine Grenze passieren, mal nicht. Die Entscheidu­ngen sind nicht immer nachvollzi­ehbar. „An diesem Punkt hatte ich dann auch zum ersten Mal Heimweh.“

Mit dem Schiff setzt er schließlic­h zehn Monate nach seinem Aufbruch von Marokko aus nach Europa über. Sein „Endspurt“in die Heimat beginnt in Sète – wenngleich nicht auf direktem Weg. Zuerst besucht er noch seine Cousinen in Südfrankre­ich, dann einen Radfahrer aus Grenoble, der ihn in Thailand eine Weile begleitet hat, und schließlic­h seine Großeltern in Heilsbronn und Ansbach. „Nach einer so langen Reise wollte ich nicht sofort nach Hause fahren. Ich wollte auf Etappen heimkommen“, erzählt er.

Als Sebastian Hiller am 21. Mai 2016 zu Hause in Eichstätt ankommt, hat er 17 337 Kilometer auf dem Tacho, überrasche­nderweise acht Kilo mehr auf den Rippen und Unsummen von Geschichte­n im Gepäck, die er auf vier Kontinente­n in 27 Ländern erlebt hat. Einen Teil von ihnen erzählt er in seinem Dokumentat­ionsfilm „You are welcome“, der aus den vielen Videos entstanden ist, die er während seiner Reise gemacht hat. Würde er alles wieder so machen? Sebastian Hiller überlegt nicht lange: Als er beschlosse­n habe, mit dem Rad loszufahre­n, sei das mit Sicherheit die beste Entscheidu­ng seines Lebens gewesen. Heute würde er es anders machen – nicht mehr allein und wenn schon mit Rad, dann mit einem E-Bike. Doch am Ende hält er es mit einem Zitat eines Schweizer Journalist­en: „Der einzig wirklich große Fehler, den man auf einer Weltreise machen kann, ist nicht loszufahre­n!“

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Fotos: Sebastian Hiller Geschafft! Im Himalaja Gebirge schleppt sich der 20 Jährige mehrere Pässe in einer Höhe von um die 5000 Meter hoch. Dafür wird er mit Ausblicken wie diesen auf den Salz wasser See Kyagar Tso belohnt.
 ??  ?? In Süd Laos sucht Sebastian Hiller oftmals in Tempeln eine Herberge. Als Gegenleis tung für die Gastfreund­schaft unterricht­et er die Mönche in Englisch.
In Süd Laos sucht Sebastian Hiller oftmals in Tempeln eine Herberge. Als Gegenleis tung für die Gastfreund­schaft unterricht­et er die Mönche in Englisch.
 ??  ?? Nicht immer war das Radfahren ein Vergnügen. Manchmal musste Sebastian Hiller durch tiefen Schlamm, manchmal über felsiges Geröll. Sein Rad hielt aber Stand.
Nicht immer war das Radfahren ein Vergnügen. Manchmal musste Sebastian Hiller durch tiefen Schlamm, manchmal über felsiges Geröll. Sein Rad hielt aber Stand.
 ??  ?? Ein weißer junger Mann, der allein auf dem Fahrrad durch Westafrika unterwegs ist – das hat bei den Bewohnern für Aufsehen gesorgt.
Ein weißer junger Mann, der allein auf dem Fahrrad durch Westafrika unterwegs ist – das hat bei den Bewohnern für Aufsehen gesorgt.
 ??  ?? Im Himalaja Gebirge in Indien durfte der Eichstätte­r in einer Jurte übernachte­n und essen. Die Gastfreund­schaft dieser armen Familie hat ihn nachhaltig beeindruck­t.
Im Himalaja Gebirge in Indien durfte der Eichstätte­r in einer Jurte übernachte­n und essen. Die Gastfreund­schaft dieser armen Familie hat ihn nachhaltig beeindruck­t.
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