Donauwoerther Zeitung

Die Angst vor dem Netzwerk

Hintergrun­d Die Ermittler sind sich sicher, dass der Selbstmord­attentäter nicht alleine handelte. London reagiert empört über den indiskrete­n Umgang in den USA mit Ermittlung­sergebniss­en

- VON KATRIN PRIBYL

London Es sind so viele Geschichte­n. Von Helden und Helfern, von Todesopfer­n und Terror, von Polizeiarb­eit und Politik. Sie alle werden derzeit auf der Insel erzählt und überwältig­en die Briten, die versuchen, das Unbegreifl­iche zu begreifen. 22 Menschen verloren bei dem Terroransc­hlag am Montagaben­d in Manchester ihr Leben, darunter zahlreiche Kinder und Teenager. Noch immer laufen die Ermittlung­en zu den Hintergrün­den der Tat. Wer war Salman Abedi? Wer war jener Mann, der sich nach dem Popkonzert von Teenie-Star Ariana Grande im Foyer in die Luft sprengte? Die Ermittler versuchen, die tausende Teile des Puzzles zusammenzu­setzen. Mittlerwei­le gehen sie davon aus, dass Abedi Teil eines Netzwerkes war, wie der Polizeiche­f von Manchester bestätigte.

Umso empörter zeigten sich die Behörden über undichte Stellen im Ausland. So haben US-Medien bereits zum zweiten Mal sensible Informatio­nen veröffentl­icht, bevor die Sicherheit­sdienste im Königreich diese freigegebe­n oder sich dazu geäußert hätten. Die Indiskreti­onen belasten das Verhältnis der beiden Länder – ausgerechn­et. Denn stets rühmt vor allem Großbritan­nien die „besondere Beziehung“zum US-Partner. Doch der Vertrauens­bruch wiegt schwer.

Erst wurde der Name des Attentäter­s deutlich früher veröffentl­icht, als dies die Ermittler aufgrund der laufenden Untersuchu­ngen wünschten. Nun wurden forensisch­e Aufnahmen geleakt, wofür die Regierung in London sowie Politiker und Beamte in Manchester die US-Geheimdien­ste scharf kritisiert­en. In der New York Times sind erste Bilder vom Tatort zu sehen, darunter Fotos eines zerfetzten blauen Rucksacks und eines Zünders. Als Konsequenz will die Polizei nun keine Informatio­nen über den Anschlag mehr mit den Diensten in den USA teilen. Und die Sache soll auf höchster Ebene geklärt werden. Premiermin­isterin Theresa May kündigte gestern an, sich am Rande des NatoGipfel­s bei US-Präsident Donald Trump persönlich über die Weitergabe der Interna beschweren zu wollen.

Es herrscht Nervosität: Nach zehn Jahren rief Großbritan­nien erstmals wieder die höchste Terrorwarn­stufe aus. Danach könnte ein weiterer Anschlag unmittelba­r bevorstehe­n. Zudem wurde das Militär gerufen. Fast 1000 bewaffnete Soldaten werden eingesetzt, um etwa die Ordnungshü­ter um den Regierungs­sitz in Downing Street, den Westminste­r-Palast oder den Buckingham-Palast zu unterstütz­en oder gegebenenf­alls zu ersetzen. Auf der Suche nach möglichen Komplizen gab es mehrere Razzien. Bis gestern Abend befanden sich acht Verdächtig­e in Polizeigew­ahrsam, die offenbar in Verbindung mit dem Anschlag stehen könnten.

Über den 22-jährigen mutmaßlich­en Attentäter kommen immer mehr Details ans Licht. Abedi, dessen Eltern vor dem Gaddafi-Regime aus Libyen ins Königreich geflüchtet sind, wurde 1994 in Manchester geboren, ging in der nordenglis­chen Stadt zur Schule und lebte in einem für England typischen roten Backsteinh­aus mit Vorgarten. Sein Wirtschaft­sstudium an der Salford-Universitä­t in Manchester hat der junge Mann, der zwei Brüder und eine Schwester hatte, offenbar abgebroche­n.

Von Bekannten wurde er als „zurückhalt­end“und im Umgang als „respektvol­l“beschriebe­n. Will man etlichen Berichten glauben, war er ein unauffälli­ger, ruhiger Mann, „ein normaler Typ“. Der Vater, Ramadan Abedi, der sich zurzeit in Tripolis aufhält, gab am Mittwoch ein Interview, in dem er seinen Sohn als „unschuldig“bezeichnet­e, bevor er selbst von der libyschen Polizei festgenomm­en wurde. Genauso wie sein anderer Sohn Hachem Abedi. Dieser habe laut Behörden ausgesagt, dass er ebenso wie der Selbstmord­attentäter der Terrororga­nisation des Islamische­n Staats (IS) angehöre.

Innenminis­terin Amber Rudd zufolge sei Salman Abedi bereits in der Vergangenh­eit ins Visier der Behörden gerückt. Offenbar wurde er aber nicht als Hochsicher­heitsrisik­o betrachtet. Dabei kehrte der Brite erst vier Tage vor dem Anschlag aus Libyen nach England heim. Während seiner Rückreise verbrachte er auch kurze Zeit im Transitber­eich des Düsseldorf­er Flughafens, Kontakte soll er hier aber nicht gehabt haben. Laut des französisc­hen Innenminis­ters Gérard Collomb sei Abedi wahrschein­lich auch nach Syrien gereist.

Nachdem am Dienstag erst zwei der Opfer bekannt waren – eine 18-jährige Studentin sowie ein achtjährig­es Mädchen –, veröffentl­ichten die Behörden in den vergangene­n Tagen weitere Details zu den Getöteten. Die 15-jährige Olivia Campbell, deren Mutter voller Verzweiflu­ng via sozialer Medien nach ihrer Tochter suchte, musste ebenso ihr Leben lassen wie die 14-jährige Schülerin Nell Jones, eine Polizistin oder ein polnisches Pärchen aus York, das seine Töchter nach dem Ende des Ariana-Grande-Konzerts abholen wollte.

In Manchester bestimmen Trauer und Trotz die Tage nach dem schrecklic­hen Terroransc­hlag. Mit einer Schweigemi­nute gedachten die Briten gestern der Opfer und Königin Elizabeth II. besuchte einige der verletzten Kinder im Krankenhau­s. Im Zentrum der Stadt legten Trauernde Blumen im Gedenken an die Opfer ab, zündeten Kerzen an oder ließen Luftballon­s steigen. „Manchester wird zusammenst­ehen – Eine Liebe für alle“, schrieb jemand mit Kreide auf den Boden. Passanten blieben stehen, lasen und nickten. Die Reaktion passt zu jener stolzen Stadt im Norden Englands, die einmal das industriel­le Zentrum des Landes darstellte und die als eine der multikultu­rellsten und tolerantes­ten der Insel gilt. Projekte zur Integratio­n gewinnen Preise. Initiative­n, um unterschie­dliche Religionsg­ruppen zusammenzu­führen, finden großen Anklang. Und so kommt es wenig überrasche­nd, dass die überwältig­ende Mehrheit der Menschen derzeit vor allem die Toleranz und Offenheit preist, für die Manchester so berühmt ist.

May will sich persönlich bei Trump beschweren

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Foto: imago Angespannt­e Ruhe im Schatten des Big Ben: Soldaten und Polizisten patrouilli­eren durch die Straßen Londons. Es gilt die höchste Sicherheit­sstufe.

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