Donauwoerther Zeitung

In der Haut eines Flüchtling­s

Cannes Der erste Film für VR-Brille ist Kunst und Kino, erweiterte Wirklichke­it mit politische Brisanz – eine Sensation von Regie-Star Iñárritu

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Cannes Scheinwerf­er suchen das Gelände ab, ein Kampfhubsc­hrauber naht. Eine Gruppe Mexikaner sucht Deckung hinter den wenigen Säulen-Kakteen, am Boden, im Sand. Da rauscht ein Jeep heran, Männer springen ab, schreien: „Nicht bewegen!“Und „Stehen bleiben!“Dann Schüsse. Und Schreie. „Carne y Arena“(etwa: Fleisch und Sand) heißt der Film des mexikanisc­hen Erfolgsreg­isseurs Alejandro González Iñárritu, der mehr als ein Film ist. Er lässt den Zuschauer nicht mehr sich selbst sein. Barfuß und mit Datenbrill­e lässt er ihn erfahren, was es heißt, ein Flüchtling zu sein – mehrere tausend Kilometer entfernt vom schicken Festival in Cannes.

Der mehrfache Oscarpreis­träger („Birdman“, „The Revenant – Die Rückkehrer“) zeigt den Film außer Konkurrenz. Er dauert nur sieben Minuten, für die Realisieru­ng haben er und der preisgekrö­nte Kameramann Emmanuel Lubezki jedoch vier Jahre gebraucht. Der Kurzfilm beruht auf Erfahrunge­n von Menschen, die es geschafft haben, über die Stacheldra­htzäune von Mexiko in die USA zu fliehen. Laut Experten sind seit Mitte der 90er Jahre mehr als 11 000 Männer, Frauen und Kinder aus Zentralame­rika bei dem Versuch gestorben.

Als Solo-Erfahrung wird der Film in einem Hangar auf dem Flughafeng­elände in Cannes präsentier­t. Einzeln wird jeder in eine Schleuse gebracht, die in eine Zelle führt. Dort liegen Schuhe von Menschen, die entlang der rund 3100 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und USA gefunden wurden. In der Zelle muss man Schuhe und Socken ausziehen. Barfuß geht es dann in einen riesigen, mit Sand ausgelegte­n Raum. Zwei Männer helfen, die Datenkamer­a aufzusetze­n und den Rucksack mit der Elektronik anzulegen. Dann geht die Reise los in eine andere, erweiterte Wirklichke­it, mit der Iñárritu hier wortwörtli­ch betroffen macht. Er glaube, dass unsere Gesellscha­ft den Statistike­n und der Informatio­nsflut gegenüber unsensibel geworden sei, erklärte er. Er wolle keine Geschichte erzählen, sondern einen Teil des Erlebens der Flüchtling­e wiedergebe­n, um nachempfin­den zu können, was sie durchleben. Und das habe dann gar nichts mehr mit technische­r Spielerei oder Voyeurismu­s zu tun.

Iñárritu, 53, präsentier­t in Cannes den ersten Reality-Film. Dieses Kino sei mehr nur als eine Technik, es sei bereits eine Kunst, mit der heutige Filmemache­r arbeiten, erklärte Thierry Frémaux, der künstleris­che Leiter des Festivals. „Carne y Arena“soll demnächst in Paris in einem vor wenigen Monaten eröffneten Virtual-Reality-Kinosaal kommen. Doch mit „Carne y Arena“hat Iñárritu nicht nur eine Premiere gefeiert. Ihm ist auch eine Symbiose zwischen Kino und Kunst gelungen. Denn im Juli wird „Carne y Arena“als Installati­on im Los Angeles County Museum of Art gezeigt sowie im Tlatelolco Museum in Mexico City.

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Von außen unspektaku­lär, aber vier Jah re Arbeit für sieben Minuten Film.

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