Paul Auster: Die Brooklyn Revue (29)
HARRY: Wohin möchtest du uns denn führen, mein Lieber? Wir sitzen hier und warten auf den nächsten Gang, trinken einen vorzüglichen Sancerre und unterhalten uns mit sinnlosen Geschichten. Daran ist doch nichts Falsches. In den meisten Gegenden der Welt gilt so etwas als Gipfel zivilisierten Verhaltens.
NATHAN: Der Junge ist deprimiert, Harry. Er will reden.
HARRY: Das sehe ich selbst. Ich habe doch Augen im Kopf, oder? Wenn Tom mein Hotel Existenz nicht gutheißen kann, sollte er uns vielleicht etwas von seinem erzählen. Jeder Mensch hat eins. Und so, wie keine zwei Menschen einander gleich sind, ist auch jedes Hotel Existenz von allen anderen verschieden.
TOM: Tut mir Leid. Ich will euch nicht langweilen. Das sollte ein lustiger Abend werden, und jetzt bin ich der Spielverderber.
NATHAN: Vergiss es. Beantworte einfach Harrys Frage.
TOM (er schweigt lange; dann, mit leiser Stimme, als spräche er zu sich selbst): Ich möchte mein Leben ändern, das ist alles. Wenn ich schon nicht die Welt verändern kann, dann vielleicht wenigstens mich selbst. Aber ich will das nicht alleine machen. Ich bin auch so schon viel zu allein, und ob das meine Schuld ist oder nicht: Nathan hat Recht. Ich bin deprimiert. Seit wir neulich über Aurora gesprochen haben, habe ich immerzu an sie denken müssen. Sie fehlt mir. Meine Mutter fehlt mir. Mir fehlen alle, die ich verloren habe. Manchmal bin ich so traurig, dass ich es nicht fassen kann, warum ich unter der Last, die mich niederdrückt, nicht einfach tot zusammenbreche. Wie mein Hotel Existenz aussieht, Harry? Ich weiß es nicht, aber vielleicht geht es in meinem darum, mit anderen zu leben, aus diesem Rattenloch von einer Stadt fortzukommen und mein Leben mit Menschen zu verbringen, die ich liebe und achte.
HARRY: Eine Kommune.
TOM: Nein, keine Kommune eine Gemeinschaft. Das ist ein Unterschied.
HARRY: Und wo soll dein kleines Utopia zu finden sein?
TOM: Irgendwo auf dem Land, nehme ich an. Ein Anwesen mit großen Ländereien und genug Gebäuden für alle, die dort leben wollen.
NATHAN: An wie viele Leute denkst du da so?
TOM: Keine Ahnung. Ich habe doch noch nichts konkret geplant. Aber ihr beide wärt mir mehr als willkommen.
HARRY: Ich fühle mich geschmeichelt, dass ich bei euch so gut angeschrieben bin. Aber was soll aus meinem Geschäft werden, wenn ich aufs Land ziehe?
TOM: Das zieht mit. Du machst ja auch jetzt schon neunzig Prozent deines Umsatzes durch die Post. Ist es nicht gleichgültig, zu welchem Postamt du gehst? Ja, Harry, natürlich möchte ich, dass du mitmachst. Und Flora vielleicht auch.
HARRY: Meine geliebte, geisteskranke Flora. Aber wenn du sie mitnimmst, müsste auch Bette eingeladen werden. Sie ist ziemlich krank. Mit Parkinson an den Rollstuhl gefesselt, die Ärmste. Ich kann nicht sagen, wie sie reagieren würde, aber am Ende sagt ihr die Idee womöglich zu. Und schließlich noch Rufus. NATHAN: Wer ist Rufus? HARRY: Der junge Mann, der im Buchladen hinter der Kasse sitzt. Der große hellhäutige Jamaikaner mit der rosa Boa. Ich habe ihn vor ein paar Jahren vor einem Haus im West Village entdeckt, da stand er und heulte wie ein Schlosshund, und ich habe ihn nach Hause mitgenommen. Inzwischen habe ich ihn praktisch adoptiert. Der Job im Buchladen hilft ihm, seine Miete zu zahlen, aber er ist auch einer der besten Transvestiten der Stadt. An den Wochenenden arbeitet er unter dem Namen Tina Hott. Er ist fabelhaft, Nathan. Du solltest dir seine Show mal ansehen.
NATHAN: Warum sollte er die Stadt verlassen wollen?
HARRY: Zunächst einmal, weil er mich liebt. Und weil er HIV-positiv ist und in schrecklichen Ängsten lebt. Ein Tapetenwechsel könnte ihm gut tun.
NATHAN: Schön. Aber wie sollen wir das Geld auftreiben, um uns ein Anwesen auf dem Land zu kaufen? Ich könnte schon etwas beisteuern, aber längst nicht genug.
TOM: Wenn Bette mitkommen will, lässt sie vielleicht was springen.
HARRY: Ausgeschlossen. Ein Mann hat seinen Stolz, Sir, und ich würde lieber zehnmal hintereinander abkratzen, ehe ich diese Frau noch um einen einzigen Penny bitte.
TOM: Angenommen, du verkaufst dein Haus in Brooklyn; das bringt doch wohl genug.
HARRY: Ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn ich meine letzten Jahre schon in der Pampa verbringe, dann aber bitte in großem Stil. Primitiv wie ein Bauer will ich nicht leben, Tom. Entweder ich werde zum Gutsherrn, oder ich steige aus.
TOM: Also ein bisschen hier und ein bisschen da. Wir überlegen uns, wer sonst noch mitmachen könnte, und wenn wir unsere Mittel zusammenlegen, kriegen wir’s vielleicht hin.
HARRY: Keine Sorge, Leute. Onkel Harry wird sich um alles kümmern. Hofft er jedenfalls. Wenn alles nach Plan verläuft, können wir in naher Zukunft mit einer ordentlichen Geldspritze rechnen. Genug, dass wir unseren Traum wahr machen können. Davon reden wir doch, oder? Von einem Traum, einem wilden Traum, uns von den Sorgen und Kümmernissen dieser elenden Welt zu verabschieden und uns eine eigene zu erschaffen. Ein sehr riskantes Unternehmen, ja, aber wer weiß, ob es uns nicht doch gelingt?
TOM: Und wo soll diese „Geldspritze“herkommen?
HARRY: Sagen wir einfach, ich habe was Geschäftliches am Laufen, und warten erst einmal ab. Wenn ich meine Schäfchen im Trockenen habe, ist das neue Hotel Existenz gesichert. Wenn nicht, bin ich wenigstens mit fliegenden Fahnen untergegangen.
Mehr kann man von einem Mann nicht erwarten, oder? Ich bin sechsundsechzig Jahre alt, und nach dem ganzen Auf und Ab meiner … meiner etwas dubiosen Karriere ist das wahrscheinlich meine letzte Chance, einen dicken Batzen Geld an Land zu ziehen. Und wenn ich sage, einen dicken Batzen, dann meine ich einen sehr dicken Batzen. Mehr, als ihr beide euch überhaupt vorstellen könnt.