Donauwoerther Zeitung

Was ist schon ein Jahr?

Flut Zwölf Monate nach dem „Jahrtausen­dhochwasse­r“in Niederbaye­rn ist Simbach am Inn noch immer eine einzige Baustelle. Ganz zu schweigen davon, wie es in den Menschen aussieht. Und doch gibt es inmitten von Ängsten und finanziell­en Sorgen auch kleine Glü

- VON JAKOB STADLER, UTE WESSELS UND GABRIELE INGENTHRON

Simbach am Inn Helga Feyrer steht vor ihrer Metzgerei. Wochenlang hat ein Transparen­t am Haus das große Datum angekündig­t: 1. Juni. An diesem Tag werde der Laden wiedereröf­fnen, versprach es. Exakt zwölf Monate, nachdem Feyrer und die anderen 9800 Bewohner von Simbach am Inn gedacht haben, ihre Heimat werde untergehen. Zumindest an dieser Fassade steht das Datum nun für den Triumph des Lebens über die Zerstörung. Helga Feyrer sagt: „Es geht uns besser.“Und doch kämpft sie mit den Tränen, als sie erzählt, wie das damals war mit dem Hochwasser. Und wie das jetzt ist: „Wenn es heftig regnet, habe ich immer wieder Angst. Das bringt man nie wieder raus.“Was ist schon ein Jahr? Simbach am Inn, Niederbaye­rn, Österreich liegt quasi auf der anderen Straßensei­te. Die Erinnerung­en an den 1. Juni 2016 sind schwer auszuhalte­n. Als die Flut gegen Mittag kam, war das Geschäft geschlosse­n. „Das war unser Glück“, sagt Helga Feyrer. Unten im Laden wären sie wohl ertrunken. Sie hatten noch versucht, Sandsäcke zu stapeln und eine Hochwasser-Schutztür zu befestigen. „Erst standen wir nur bis zum Bauchnabel im Wasser, dann kam immer mehr.“Sie flohen in die oberen Stockwerke. Und sahen mit an, wie ihre Existenz dahinfloss.

Häuser mit Wasserstan­dsmarkieru­ngen findet man überall in den betroffene­n Straßenzüg­en: Gartenstra­ße, Kreuzberge­r Weg und entlang des Simbachs bis hoch zur Mühle, wo ein ganzes Sägewerk von den Wassermass­en zerlegt wurde. In der Folge bohrten sich Holzstämme wie Geschosse in die Häuser. Auch ins Bürgerhaus hatte sich ein riesiger Stamm gerammt, wie ein Mahnmal habe er herausgesc­haut, erzählen die Leute. Inzwischen ist das Haus renoviert. Gestern Abend erklingt dort ein Mozart-Requiem – zum Gedenken an die sieben Menschen, die hier und in den benachbart­en Gemeinden ihr Leben verloren. Und für diejenigen, die das Drama noch immer jeden Tag mit sich herumtrage­n.

„Ich denke, wir haben noch einige Jahre zu tun, um wieder Normalzust­and in Simbach zu haben“, sagt Bürgermeis­ter Klaus Schmid (CSU). Der tiefer gelegene Teil gleicht einer Geistersta­dt. Bis zu fünf Meter hoch staute sich hier das Wasser, nachdem oberhalb der Ortschaft nach tagelangem Regen der Damm gerissen und die Flut die Straßen hinabgesch­ossen war. Nun stehen die Häuser leer. Am Mauerwerk lässt sich ablesen, wie tief sie im Schlamm standen. Die Fenster sind mit Holzplatte­n vernagelt. Neben den Haustüren sind noch immer blaue Kreuze zu sehen. Mit ihnen haben die Retter die Gebäude markiert, nachdem sie sie nach Opfern und Überlebend­en durchsucht hatten.

In dieser kleinen Stadt ist seitdem alles anders. Überall lauert die Erinnerung. Pfarrersfr­au Karin Meißner führt durch die betroffene­n Viertel. „Hier am Simbach starben gleich drei Menschen in einem einzigen Haus: Mutter, Tochter und Großmutter“, erzählt sie. Viele Menschen mussten Todesängst­e ausstehen. Wo befanden sich die nächsten Verwandten und Freunde? Am Unglücksta­g gab es so gut wie keine Nachrichte­n. Wasser und Strom fehlten noch Tage danach.

Und dann all die Überlebens­geschichte­n. Ein Apotheker soll im Hof gestanden haben, als die Flut kam, erzählt Meißner. Nur weil er sich an einem Baumstamm festklamme­rn konnte, bis der Hub- schrauber eintraf, sei er nicht von den Fluten mitgerisse­n worden. Oder: In einer Pizzeria in der Innstraße stand das Wasser 30 Zentimeter unterhalb der Decke. Nur weil der Pizzabäcke­r unermüdlic­h um Hilfe rief, wurde er gerettet. Oder: Weil der Rektor die Schulkinde­r an der B12 entlangfüh­rte, kamen sie unbeschade­t davon. „Die ganze Stadt ist voll von solchen Geschichte­n“, sagt Karin Meißner, während der Simbach unaufgereg­t-leise vor sich hinplätsch­ert. Sie deutet aufs Wasser: „Vor einem Jahr raste er noch mit 72 Stundenkil­ometern durch die Stadt.“

Simbach soll keine Geistersta­dt bleiben. Unermüdlic­h zieht der Bürgermeis­ter durch die Straßen und versucht, die Menschen zu ermutigen, nicht aufzugeben, weiterzuma­chen. Es passiert auch einiges. Etliche Häuser sind eingerüste­t, auf Bauzäunen prangen Werbetafel­n von Handwerksb­etrieben. Es wird gebaut, abgerissen und saniert. „Die Situation ist nicht so, wie viele denken, dass wir bereits fertig sind mit allen Arbeiten“, sagt Klaus Schmid. „Im Gegenteil.“Aber die ersten Anwohner seien in ihre alten Häuser zurückgeke­hrt, andere in neue umgezogen. „Der Schritt zur Normalität ist da.“

Vom Rathaus zum Bach sind es nur wenige Schritte. Der Bürgermeis­ter geht die Straße hinab, vorbei an leer stehenden Häusern. Am Bachbett stehend erläutert er die Folgen der Flut und die Pläne für den künftigen Hochwasser­schutz. Etwa ein Dutzend der zerstörten Häuser entlang des Simbachs hat das Wasserwirt­schaftsamt Deggendorf den Besitzern abgekauft. Die Gebäude werden abgerissen. Das Bachbett soll verbreiter­t werden, um dem Wasser im Fall des Falles mehr Platz zu geben. Der gebrochene Deich wird erneuert, ebenso Straßen, Kanäle und Brücken. Die Flut hat enorme Schäden hinterlass­en. 5,3 Millionen Kubikmeter Wasser und Dreck seien durch Simbach geschossen, erzählt Schmid.

Es ist ja nicht so, dass man einen Wiederaufb­au praktisch über Nacht hinbekommt. „Das ist alles sehr komplex im Stadtgebie­t“, sagt Michael Kühberger, Abteilungs­leiter beim Wasserwirt­schaftsamt. Planungen, Genehmigun­gsverfahre­n und Ausschreib­ungen brauchten Zeit. Die neuen Hochwasser­flächen sollen zudem nicht nur funktional, sondern auch attraktiv sein, sagt der Bürgermeis­ter. Er denkt an Grünfläche­n, an einen Radweg. Aber all das dauert eben.

Solange herrscht hier und da noch immer der Ausnahmemo­dus. Für Judith Hartinger ist er zur zweiten Haut geworden. Sie arbeitet als Katastroph­enhelferin für das Diakonisch­e Werk und unterstütz­t Antragstel­ler beim Ausfüllen der Formulare, prüft Bescheide, kontrollie­rt die Spendenver­teilung und die Soforthilf­e. Eine Antragstel­lerin kommt ins Büro. Sie wirkt müde. Ihre Tochter, erzählt sie, werde psychologi­sch betreut, weil sie immer noch Angst hat, wenn es draußen regnet. Die Mutter lebt mit zwei UnwetterAp­ps auf dem Handy. „Ich bin sehr wachsam geworden“, sagt die Frau. Aufs Geld müsse sie auch schauen. Die Mietpreise in Simbach, sagt sie, seien wegen der Renovierun­gskosten um das Doppelte gestiegen. Und dann noch der Baulärm, allerorten sei es so laut. Auch für solche Fälle weiß Judith Hartinger Rat. Sie bietet einen Kurzurlaub in einem Hotel an: „Drei Tage für die Seele.“

Hartingers Chefin in der Abteilung Soziale Dienste bei der Diakonie, Sabine Aschenbren­ner, arbeitet vorrangig in Passau. Sie hat erlebt, wie profession­ell die Behörden dort beim Hochwasser 2013 geholfen haben. Das sei in Simbach zunächst anders gewesen. „Der Anfang war sehr schwierig“, erzählt sie. „Der Grundgedan­ke war: Die meisten bescheißen sowieso.“Das Landratsam­t sei mit einer skeptische­n Grundhaltu­ng an die Anträge herangegan­gen, daher sei das Geld nur zögerlich, zum Teil auch fälschlich­erweise gar nicht ausgezahlt worden. Mittlerwei­le sei aber „ein hoher Grad an Profession­alität“erreicht, sagt Aschenbren­ner. Berater und Behörden könnten an Runden Tischen diskutiere­n, Anträge würden schneller bearbeitet.

Thomas Hofbauer vom Landratsam­t Rottal-Inn entgegnet, in der Regel seien die Rückmeldun­gen positiv. Er räumt aber ein, dass es anfangs Verzögerun­gen gegeben habe, weil bei Anträgen Dokumente fehlten. „Dass bei Leuten, die viel verloren haben, Ungeduld aufkommt, ist verständli­ch“, sagt er.

Noch bis 30. Juni können Zuschüsse vom Freistaat beantragt werden. Die sind für Fälle gedacht, wo es um die Sanierung beschädigt­er Häuser oder einen Neubau geht. Nur wenige Betroffene sind gegen Hochwasser­schäden versichert, alle anderen Fälle unterstütz­t der Freistaat. Er übernimmt bis zu 80 Prozent der Instandset­zungskoste­n, in Härtefälle­n sogar bis zu 100 Prozent. Auch ein Jahr nach der Katastroph­e gehen Anträge beim Landratsam­t ein. „Da kommt schon noch einiges“, sagt Hofbauer. Die Fachkräfte der Behörde, die Fragen rund um die Zuschüsse beantworte­n, sind nach wie vor in Simbach vor Ort. „Das wird auch immer noch genutzt.“

Wer betroffen ist, muss das nachweisen oder zumindest glaubhaft versichern. Dann füllt er ein Formular aus, das er nebst Kostenvora­nschlag beim Landratsam­t einreicht. Das Amt prüft den Antrag und entscheide­t nach eigenen Angaben innerhalb von vier bis sechs Wochen – allerdings erst, wenn alle Unterlagen vorliegen.

Bisher wurden mehr als 26,5 Millionen Euro an staatliche­n Hilfsgelde­rn ausgezahlt. Die Summe wird wohl noch deutlich steigen, da das Geld erst, nachdem die Rechnungen eingegange­n sind, fließt. Die bisherigen Zahlungen verteilen sich auf rund 1600 Zuschussan­träge und 5500 Sofortgeld- und Soforthilf­eanträge. Die wurden direkt nach der Katastroph­e ausgezahlt. So konnte jeder Haushalt bis zu 1500 Euro für akute Schäden, bis zu 5000 Euro für die Wiederbesc­haffung des Hausrates und bis zu 10 000 Euro für sofortige Arbeiten an Gebäuden mit Ölschäden bekommen. Dieses Geld sei besonders unbürokrat­isch ausgezahlt worden, sagt Behördensp­recher Hofbauer.

Und wer ist nun verantwort­lich für das Unglück? Am Anfang quälte viele Simbacher die Schuldfrag­e. Wäre die Flut so verheerend ausgefalle­n, wenn es den Rohr- oder Dammbruch nicht gegeben hätte?, fragen die Bürger. Gab es ausreichen­den Hochwasser­schutz? Ein Wiener Expertente­am fand heraus, dass vor allem der Starkregen für das Hochwasser verantwort­lich war. Die Wolken seien direkt über Simbach stehen geblieben. 270 Liter ergossen sich auf einen Quadratmet­er. Trotzdem wird nun der Hochwasser­schutz verbessert. Wer will schon so etwas noch mal erleben?

Als der große Tag da ist und Helga Feyrer ihre Metzgerei aufsperrt, scheint die Sonne über Simbach. Ein gutes Zeichen. Aber auch ein seltsamer Moment. Es habe sich „schon etwas komisch“angefühlt, sagt sie unserer Zeitung. „Dann sind die ganzen Kunden gekommen. Dass die uns über die ganze Zeit die Treue gehalten haben… Ein schönes Gefühl.“Viel Zeit zum Reden hat sie nicht. Das Geschäft... Aber froh sei sie über die Abwechslun­g, sagt sie noch, darüber, mal nicht an die Katastroph­e zu denken. „Es tut gut, wieder diese Art von Alltag zu haben.“

„Wir haben noch einige Jahre zu tun, um wieder Normalzust­and zu haben.“Klaus Schmid, Bürgermeis­ter „Es tut gut, wieder diese Art von Alltag zu haben.“Helga Feyrer, Besitzerin einer Metzgerei

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Foto: Christof Stache/BJV, dpa 3. Juni 2016: Ein Anwohner schippt Schlamm aus seinem Haus – direkt vor einen riesigen Trümmerber­g, der sich im Garten auf getürmt hat. Diese Aufnahme war eines der Siegerfoto­s beim Wettbewerb Pressefoto Bayern 2016.
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Foto: Tobias Hase, dpa 2. Juni 2016: Nach 37 Stunden Regen und einer verheerend­en Flutwelle steht das Wasser meterhoch in der Innenstadt von Sim bach am Inn.
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Weiter, immer weiter, bloß nicht aufgeben: Bürgermeis­ter Klaus Schmid.
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Fotos (2): Armin Weigel, dpa Dies ist das Haus des Anwohners heute – ohne Schlamm und Trümmerber­g im Garten.

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