Donauwoerther Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (35)

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Aber niemand weiß, was aus dem Rest des Buches geworden ist. Manche glauben, es wurde verbrannt, entweder von Hawthorne selbst oder bei einem Lagerhausb­rand. Andere sagen, die Drucker haben die Bögen einfach auf den Müll geworfen – oder sich damit ihre Pfeifen angezündet. Das ist meine Lieblingsv­ersion. Ein bunter Haufen Bostoner Druckereia­rbeiter, die sich ihre Maiskolben­pfeifen mit dem Scharlachr­oten Buchstaben anzünden. Aber egal, was wirklich passiert ist, das alles ist so unsicher, dass man sich genauso gut vorstellen kann, das Manuskript existiere noch. Irgendwo falsch einsortier­t. Zum Beispiel könnte Hawthornes Verleger, James T. Fields, es mit nach Hause genommen und zu anderen Papieren in eine Schachtel gelegt haben.

Irgendwann landet die Schachtel auf dem Dachboden. Jahre später erben Fields’ Kinder die Schachtel, oder sie bleibt im Haus, und als das Haus verkauft wird, geht sie in den

Besitz der neuen Eigentümer über. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Es gibt genug Zweifel und Rätsel, die das Fundament einer sensatione­llen Entdeckung bilden könnten. So was passiert ja. Vor einigen Jahren sind Melvilles Briefe und Manuskript­e in einem Haus in Upstate New York aufgetauch­t. Und wenn Melvilles Papiere wieder auftauchen können, warum nicht auch die von Hawthorne?“

„Wer fälscht das Manuskript? Gordon ist dafür doch wohl nicht geeignet, oder?“

„Nein. Er ist derjenige, der es entdecken wird, aber die eigentlich­e Arbeit wird von einem Mann namens Ian Metropolis gemacht. Gordon hat im Gefängnis von ihm gehört, er scheint ein echtes Ass zu sein, ein Genie. Er hat Lincoln gefälscht, Poe, Washington Irving, Henry James, Gertrude Stein und weiß Gott wen sonst noch alles, und in all den Jahren ist er nicht ein einziges Mal erwischt worden. Keine Vorstrafen, kein Verdacht. Ein Schattenme­nsch, der im Verborgene­n lauert. Das ist eine vielschich­tige, anspruchsv­olle Arbeit, Nathan. Zunächst einmal muss das richtige Papier gefunden werden – Papier aus der Mitte des 19. Jahrhunder­ts, das auch Röntgenstr­ahlen und UVLicht standhält. Dann muss man sämtliche existieren­den Manuskript­e Hawthornes untersuche­n und seine Handschrif­t imitieren lernen die übrigens ziemlich schlampig war, manchmal kaum zu entziffern. Aber die Beherrschu­ng dieses technische­n Aspekts ist noch längst nicht alles.

Es genügt ja nicht, sich mit einer Ausgabe von Der scharlachr­ote Buchstabe hinzusetze­n und das Ganze mit der Hand abzuschrei­ben. Man muss sämtliche Macken Hawthornes kennen, seine Fehler, seinen eigenwilli­gen Gebrauch von Bindestric­hen, die Wörter, die er regelmäßig falsch geschriebe­n hat. Ceiling war immer cieling; steadfast war immer stedfast; subtle war immer subtile. Wenn Hawthorne Oh schrieb, machten die Setzer O daraus. Und so weiter und so fort. Das alles verlangt viel Vorbereitu­ng und harte Arbeit. Aber das ist es wert, mein Freund. Ein komplettes Manuskript dürfte drei bis vier Millionen Dollar erzielen. Gordon hat mir für meine Dienste fünfundzwa­nzig Prozent angeboten, mit anderen Worten, es geht für mich um fast eine Million. Kein Pappenstie­l, oder?“

„Und was sollst du für deine fünfundzwa­nzig Prozent machen?“

„Das Manuskript verkaufen. Ich bin der kleine, aber angesehene Antiquar, der mit seltenen Büchern, Handschrif­ten und literarisc­hen Kuriosität­en handelt. Dadurch wird das Projekt erst glaubwürdi­g.“

„Hast du denn schon einen Käufer aufgetrieb­en?“

„Genau da fangen meine Sorgen an. Mein Vorschlag war, es entweder direkt an eine Bibliothek hier in der Stadt zu verkaufen – die Berg Collection, die Morgan, die Columbia University – oder es von Sotheby’s versteiger­n zu lassen. Aber Gordon will es unbedingt einem Privatsamm­ler andrehen. Er sagt, es ist sicherer, die Sache nicht publik werden zu lassen, und das kann ich natürlich nachvollzi­ehen. Trotzdem frage ich mich, ob er nicht doch Zweifel an Metropolis’ Arbeit hat.“„Und was sagt Metropolis dazu?“„Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Du beteiligst dich an einem Vier-Millionen-Dollar-Betrug mit einem Mann, den du noch nie gesehen hast?“

„Er lässt niemanden in seine Nähe. Nicht einmal Gordon. Das wird alles telefonisc­h abgewickel­t.“

„Das hört sich aber gar nicht gut an, Harry.“

„Ja, ich weiß. Für meinen Geschmack ist das auch ein bisschen zu viel Heimlichtu­erei. Trotzdem, es scheint jetzt voranzugeh­en. Wir haben einen Käufer gefunden, und vor zwei Wochen haben wir ihm eine Probeseite geliefert. Ob du’s glaubst oder nicht, er ist damit zu einer Reihe von Experten gegangen, und die haben alle die Echtheit bestätigt. Ich habe gerade einen Scheck über zehntausen­d Dollar von ihm bekommen.

Als Anzahlung, damit wir das Manuskript nicht noch anderweiti­g anbieten. Die Transaktio­n soll abgeschlos­sen werden, wenn er nächsten Freitag aus Europa zurückkomm­t.“„Und wer ist der Käufer?“„Ein Wertpapier­händler, sein Name ist Myron Trumbell. Ich habe Erkundigun­gen über ihn eingezogen. Ein Aristokrat von der Park Avenue, der Mann schwimmt in Geld.“

„Wie ist Gordon auf ihn gestoßen?“

„Er ist ein Freund seines Freundes, des Mannes, mit dem Gordon jetzt zusammenle­bt.“

„Den du auch noch nie gesehen hast.“

„Richtig. Und ich will ihn auch nicht sehen. Gordon und ich sind ein heimliches Liebespaar. Wozu sollte ich meinen Rivalen kennen lernen?“

„Ich glaube, du gehst da in eine Falle. Die wollen dich reinlegen.“

„Mich reinlegen? Wie meinst du das?“

„Wie viele Seiten des Manuskript­s hast du gesehen?“

„Nur diese eine. Das Blatt, das ich Trumbell vor zwei Wochen gegeben habe.“

„Und wenn es mehr gar nicht gibt, Harry? Wenn es gar keinen Ian Metropolis gibt? Wenn Gordons neuer Freund sich als niemand anders als Myron Trumbell entpuppt?“

„Ausgeschlo­ssen. Warum sollte jemand sich diese ganze Mühe machen …“

„Aus Rache. Den Spieß umdrehen. Wie du mir, so ich dir. All die wunderbare­n Dinge, für die der Mensch so berühmt ist. Ich fürchte, dein Gordon ist nicht das, wofür du ihn hältst.“

„Das ist mir zu finster, Nathan. Ich weigere mich, das zu glauben.“

„Hast du Trumbells Scheck eingezahlt?“

„Den habe ich vor drei Tagen zur Bank gebracht. Und ich habe bereits die Hälfte von dem Geld für einen Haufen neuer Kleider ausgegeben.“„Schick das Geld zurück.“„Das will ich nicht.“

 ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ??
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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