Der Herausforderer von links
Porträt Labour-Chef Jeremy Corbyn hat die Briten mit seinem authentischen Wahlkampf positiv überrascht. Trotzdem trauen ihm viele den Regierungsposten nicht zu
Jeden Morgen, wenn Jeremy Corbyn die Zeitungen aufschlägt, springen ihn die negativen Schlagzeilen an. Sie betreffen ihn, den 68-jährigen Kandidaten der Labour-Partei, der am heutigen Donnerstag die Parlamentswahlen gewinnen und Theresa May in der Downing Street ersetzen will.
Erst gestern machte ihn die rechtskonservative Boulevardzeitung Daily Mail zu einem „Verteidiger des Terrors“- es ist ein schonungsloser Kampagnenjournalismus, nur Tage nach dem schrecklichen Anschlag in London. Vergangene Woche meinte der Telegraph, Corbyn sei „Hugo Chavez auf Steroiden“in Anlehnung an den mittlerweile verstorbenen Sozialisten Venezuelas. Doch der Alt-Linke Jeremy Corbyn scheint unbeeindruckt. Seit er vor zwei Jahren den Vorsitz der Sozialdemokraten überwird nahm, hat er gelernt, mit den Angriffen auf seine Person zu leben.
Und es ist vielleicht seine größte Stärke, dass der Mann mit dem weißen Vollbart und den unumstößlichen Prinzipien selbst unter dem Druck des Wahlkampfs ruhig und besonnen bleibt. Er wirkt authentisch und ehrlich, reagiert humorvoll und überlegt. Die schmutzigen Tricks der Politszene lehnt er genauso ab wie eine Rhetorik der Plattitüden. Stattdessen geht es ihm um Inhalte, ums Erklären, ums Zuhören, wie er sagt. Für den Arsenal-Fan stehen soziale Themen im Vordergrund, etwa der miserable Zustand des Gesundheitssystems, die Schere zwischen Arm und Reich, die im Königreich wie in kaum einer anderen Industrienation auseinanderklafft, die notorische Wohnungsnot oder das Bildungssystem, das die Klassenunterschiede verstärke. Corbyn wollte im Gegensatz zu May eine positive Kampagne führen, persönliche Angriffe und Schmähungen lehnte er als „nicht mein Stil“ab. Vielmehr betonte er gestern bei einem Endspurt-Auftritt, es gehe um die Wahl zwischen „Hoffnung oder Angst“. Corbyn, dreifacher Vater und in dritter Ehe verheiratet, will die Hoffnung verkörpern. Er ist das Gegenmodell zu seinen von PRProfis herausgeputzten Politkollegen in Westminster. Von seinen Fans und der Labour-Basis, den sogenannten Corbynistas, er dafür gefeiert wie ein Superstar. Doch auch wenn sich etliche Briten während der vergangenen Wochen positiv überrascht von Corbyn gezeigt haben, betrachten noch immer viele Menschen den Alt-Linken als unwählbar, wie Umfragen andeuten. Ihm wird das Amt des Regierungschefs schlichtweg nicht zugetraut. Zu diesem Image hat Labour selbst beigetragen. Die parteiinterne Selbstzerfleischung begann, als Corbyn, der seit 1983 für den Londoner Wahlkreis Islington North im Unterhaus sitzt, von der Basis überwältigend zum Parteichef gewählt wurde. Ausgerechnet der Hinterbänkler, der in 30 Jahren im Parlament bei Abstimmungen rund 500 Mal gegen die Parteilinie votiert und auch mehrfach gegen Anti-Terror-Gesetze gestimmt hat, siegte dank einer Änderung des Wahlverfahrens. Katrin Pribyl