Donauwoerther Zeitung

„Nur ein kleiner Teil hat Anspruch auf Asyl“

Interview Für einen Grünen schlägt Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer in der Flüchtling­sdebatte ungewohnt kritische Töne an. Er redet von den Grenzen der Belastbark­eit und sagt: Wir können nicht allen helfen

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Herr Palmer, Wahlen, haben Sie gesagt, könnten die Grünen nur gewinnen, wenn die linke Kreuzberg-Fraktion und der pragmatisc­he TübingenFl­ügel an einem Strang ziehen. Wie viel Kreuzberge­r Revolution­sgeist steckt denn im grünen Pragmatike­r Palmer? Palmer: Kein bisschen. Das macht aber auch nichts, denn ohne diesen idealistis­ch-revolution­ären Flügel gäbe es keine grüne Partei. Ich streite mich mit denen, durchsetze­n aber sollten sie sich besser nicht, und das haben sie beim Parteitag am vergangene­n Wochenende in Berlin auch nicht. Dennoch brauchen wir sie.

Denken Sie gelegentli­ch auch das vermeintli­ch Undenkbare - dass die Grünen im Herbst aus dem Bundestag fliegen? Zuletzt lagen sie in den Umfragen nur noch bei 6,5 Prozent. Palmer: Nein, das halte ich für ausgeschlo­ssen.

Mit der Ehe für alle, dem Aus für Verbrennun­gsmotoren oder einem großzügige­n Familienna­chzug für Flüchtling­e hat die Partei die Hürden für eine Koalition mit der Union sehr hoch gelegt. Ist Schwarz-Grün schon tot? Palmer: Was davon soll SchwarzGrü­n unmöglich machen?

Die Ehe für Schwule und Lesben zum Beispiel, dagegen würde die CSU Sturm laufen. Palmer: In der CDU ist die Ehe für alle kein Problem. Jens Spahn, der homosexuel­le Staatssekr­etär bei Wolfgang Schäuble, ist ein strammer Konservati­ver und dafür. Und Horst Seehofer ist am Ende immer so flexibel, dass er einen Weg findet. Als Ausschluss­grund sehe ich die Ehe für alle nicht.

Die Wahl in Nordrhein-Westfalen hat gezeigt, dass die Grünen große Defizite beim Thema Innere Sicherheit haben. Welche Lehren ziehen Sie daraus für den Bundestags­wahlkampf? Palmer: Wir haben daraus gelernt. In unserem Wahlprogra­mm finden Sie eine deutliche Akzentvers­chiebung hin zu mehr Sicherheit, und zwar im Inneren ebenso wie beim Schutz der Außengrenz­en. Wir wollen genau wissen, wer alles zu uns kommt, wir wollen den Verfassung­sschutz und die Polizei stärken - vor einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen. Auch uns ist klar, dass Menschen sich im öffentlich­en Raum nicht bedroht oder behelligt fühlen dürfen, wenn wir sie für unsere Flüchtling­spolitik gewinnen wollen.

Sie selbst liegen trotzdem häufig quer zu Ihrer Partei. „Wir können nicht allen helfen“heißt Ihr neues Buch. Palmer: … das stimmt ja auch! die Grünen die Bodenhaftu­ng verloren? Palmer: Nein, das nicht. Ich würde es so formuliere­n: Meine Partei hat manchmal einen Idealismus­überschuss. Die Welt besser machen zu wollen, ist ein wesentlich­er Antrieb, um zu den Grünen zu gehen. Dieses Spannungsf­eld zwischen Realismus und Idealismus prägt uns, beides braucht es. Ich sehe meine Aufgabe darin, durch Erfahrung aus der Praxis den realistisc­hen Teil zu stärken.

Warum gelingt es uns nicht besser, zwischen den Menschen zu trennen, die unseren Schutz benötigen, und denen die salopp formuliert nur ihr Glück bei uns suchen? Palmer: Weil das Thema von rechts und von links ideologisc­h aufgeladen wird, was eine vernünftig­e Lösung natürlich erschwert. Die Linken sagen, es kommen nur Menschen, die verfolgt sind, und von denen dürfen wir auch niemanden abweisen. Für die Rechten sind alle Flüchtling­e nur Schmarotze­r, die man nicht im Land haben will. Beides ist falsch. Zwei Drittel der Asylanträg­e sind anerkannt worden, das sind Flüchtling­e. Punkt. Ein Drittel ist abgelehnt worden, bei diesen Menschen müssen wir dafür sorgen, dass sie auch wieder nach Hause gehen. Das heißt: Linke müssen Abschiebun­gen akzeptiere­n und Rechte Einwande- Hätten wir ein vernünftig­es Einwanderu­ngsgesetz, gäbe es die Versuche, sich über das Asylrecht in Deutschlan­d einen Arbeitspla­tz oder auch nur den Aufenthalt zu organisier­en, nicht in diesem Maße.

Ihr Buch, das vier Wochen vor der Wahl erscheint, beschäftig­t sich unter anderem mit den Grenzen der Belastbark­eit. Ist die Grenze schon erreicht? Palmer: Da gibt es nicht eine Grenze, sondern mehrere. Ökonomisch konnten wir es uns leisten, die vielen Menschen aufzunehme­n, Deutschlan­d geht es gut. Politisch hatten wir vor einem Jahr einen sehr kritischen Zustand, als die AfD aus dem Stand mit 15 Prozent in den Landtag von Baden-Württember­g eingezogen ist. Da war die Grenze dessen erreicht, was die Leute ertragen können. Auch die Sicherheit­slage, würde ich sagen, ist kritisch, weil wir zu viele Flüchtling­e haben, die zu lange nichts zu tun hatten, die in miserablen Verhältnis­sen leben und irgendwann anfangen, Mist zu bauen. Insgesamt waren wir für drei, vier Monate über der Belastungs­grenze, inzwischen liegen wir wieder deutlich darunter. Die 300 000 Menschen, die in diesem Jahr kommen, kann Deutschlan­d problemlos aufnehmen.

Viele Grüne empfinden den VeröffentH­aben lichungste­rmin im August als gezielte Provokatio­n. Was haben Sie sich dabei gedacht? Palmer: Wenn Sie Weihnachts­bäume verkaufen wollen, fangen Sie damit auch nicht drei Tage nach Heiligaben­d an. Und wenn Sie ein politische­s Buch veröffentl­ichen, tun Sie das vor einer Wahl und nicht danach, weil davor das politische Interesse größer ist. Generell empfehle ich: erst das Buch lesen, und es dann kritisiere­n.

Integratio­n, Wohnungsno­t, Gewaltkrim­inalität: Als Oberbürger­meister sind Sie ein Mann der Praxis und haben gewisserma­ßen ein natürliche­s Interesse daran, dass die Zahl der Flüchtling­e nicht weiter steigt. Brauchen wir eine Obergrenze? Palmer: Eine solche Grenze wäre schlicht und einfach verfassung­swidrig, das geht nicht. Ich kann in ein Gesetz nicht einfach reinschrei­ben: Bei 300 000 ist Schluss. Die Begrenzung­sdebatte selbst halte ich dagegen für richtig. Nur ein kleiner Teil der Flüchtling­e hat tatsächlic­h Anspruch auf Asyl, einen deutlich größeren nehmen wir aus humanitäre­n Gründen auf, und da ist es sehr wohl möglich, Grenzen zu ziehen. Warum sagen wir nicht, wir sind bereit, ein Kontingent von 100000 oder 150000 Menschen im Jahr aus Krisengebi­eten direkt zu uns zu horung. len, mehr aber auch nicht. Eine solche Lösung wäre einerseits humanitär, auf der anderen Seite wäre sie vernünftig, weil wir ja nicht grenzenlos Hilfe leisten können.

Vielen Kommunen wachsen die Kosten der Flüchtling­skrise inzwischen über den Kopf. Was machen Sie in Tübingen eigentlich anders als ein Oberbürger­meister von der, sagen wir, CSU? Palmer: Finanziell ist das für uns in Tübingen bisher überhaupt kein Problem, das wird es erst, wenn der Bund die Sozialhilf­ekosten nicht über 2018 hinaus übernimmt, dann würden uns jedes Jahr fünf Millionen Euro fehlen. Wenn wir irgendwann in den Kommunen darüber diskutiere­n, dass wir wegen der Flüchtling­skosten kein Theater mehr sanieren und kein Schwimmbad mehr renovieren können, ist es mit der Akzeptanz schnell vorbei. Was wir in Tübingen anders machen: Wir bauen nicht nur dezentral Unterkünft­e, sondern wir bauen die Integratio­n gleich mit. Die Bauherren sind häufig Nachbarn, Leute aus dem Viertel, wir achten darauf, dass die Gebäude nicht nur von Flüchtling­en bewohnt werden, und wir waren selbst verblüfft, als wir für unsere Bauprojekt­e zehnmal mehr Bewerbunge­n hatten, als wir Bauplätze vergeben konnten. Dank der Landeszusc­hüsse von 25 Prozent rechnet sich das ja auch.

Trotzdem werden Sie aus der Partei immer wieder angefeinde­t, bis hin zu der Aufforderu­ng auf dem Parteitag, doch die Fresse zu halten. Schon mal überlegt, die Grünen zu verlassen? Palmer: Alle Grünen verbindet die Auffassung, dass wir in diesem Jahrhunder­t eine Menschheit­saufgabe zu lösen haben: Wie retten wir uns vor der Selbstzers­törung? Ich sehe keine andere Partei, die ein Thema wie den Klimaschut­z so ernsthaft angeht wie wir. Ich werde schier wahnsinnig, wenn ich sehe, wie Seehofer die Windkraft verbietet und Merkel den Ausbau der Erneuerbar­en in vier Jahren um 80 Prozent verringert hat. Ökologie ist für mich der Grund überhaupt, um in der Politik zu sein. Und wer so denkt, kann nur bei den Grünen sein.

Interview: Rudi Wais

Boris Palmer ist seit mehr als zehn Jahren Oberbürger­meister in Tübingen. Der 45 Jährige hat Geschichte und Ma thematik studiert, er saß für die Grünen im Landtag und zählt zu den bekanntest­en Mitglieder­n des realpoliti­schen Flügels seiner Partei, von der er schon früh mehr Realismus in der Flüchtling­sdebatte gefordert hat. Auch seinen Vortrag beim Lions Clubs Elias Holl in Augsburg in dieser Woche hat er provokant betitelt: „Wir können nicht allen helfen.“

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Foto: Silas Stein, dpa „Ökologie ist für mich der Grund überhaupt, um in der Politik zu sein“: Boris Palmer.

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