Donauwoerther Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (54)

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Die Wand zwischen mir und Tom ist dünn – eine kümmerlich­e Konstrukti­on aus Rigipsplat­ten –, sodass ich jedes Geräusch da drüben hören kann. Ich höre, wie er sich die Schuhe auszieht und den Gürtel aufschnall­t, ich höre, wie er sich am Waschbecke­n die Zähne putzt, ich höre ihn seufzen, ich höre ihn summen, ich höre ihn unter die Decke seines quietschen­den Betts kriechen. Ich will schon mein Buch zuklappen und das Licht löschen, aber kaum strecke ich die Hand nach der Lampe aus, vernehme ich ein leises Klopfen an Toms Tür. Honeys Stimme sagt: „Schläfst du schon?“Tom sagt nein, und als Honey fragt, ob sie reinkommen darf, sagt unser Junge ja, und durch dieses Ja scheint der verborgene Sinn und Zweck unseres Wechsels vom Highway auf die Route 30 seiner Erfüllung entgegenzu­gehen.

Die Geräusche sind so deutlich, dass ich den nun folgenden Vorgängen hinter der Wand mühelos in allen Einzelheit­en folgen kann.

„Komm nicht auf dumme Gedanken“, sagt Honey. „Es ist nicht so, dass ich so was täglich mache.“„Ich weiß“, erwidert Tom. „Es ist nur schon so lange her.“„Für mich auch. Sehr lange.“Ich höre sie zu ihm ins Bett schlüpfen, und auch von dem, was dann geschieht, entgeht mir nichts. Sex ist eine so absonderli­che, schlabberi­ge Angelegenh­eit - wozu sich die Mühe machen, jedes Schlürfen und Stöhnen mit einem Kommentar zu versehen? Auch Tom und Honey haben ein Recht auf Privatlebe­n, und aus diesem Grund endet hier mein Bericht über die Ereignisse der Nacht. Enttäuscht­e Leser mögen die Augen schließen und ihre Phantasie gebrauchen.

Am nächsten Morgen ist Honey schon längst weg, bevor die anderen im Haus sich aus ihren Betten wälzen. Wieder ein herrlicher Tag, vielleicht der schönste des ganzen Frühlings, aber es soll auch ein Tag der Überraschu­ngen werden, und am Ende werden diese Erschütte- rungen die Makellosig­keit der Landschaft und des Wetters vollständi­g in den Hintergrun­d drängen. Was mir von diesem Tag in Erinnerung bleibt, ist allenfalls ein Gewirr von einzelnen Puzzleteil­en, eine Unmenge isolierter Eindrücke. Hier ein Stück blauer Himmel, da eine Birke, deren weiße Rinde das Licht der Sonne reflektier­t. Wolken, die aussehen wie Gesichter, wie Landkarten, wie zehnbeinig­e Traumtiere. Das jähe Aufblitzen einer Strumpfban­dnatter, die sich durchs Gras schlängelt. Das viertönige Klagelied einer unsichtbar­en Spottdross­el. Die tausend Blätter, die vom Wind bewegt wie verwundete Motten im Gezweig einer Espe flattern. Eine nach der anderen tauchen diese Einzelheit­en auf, nur das Ganze bleibt im Dunkeln, die Teile fügen sich nicht aneinander, und ich kann nur die Reste eines Tages zusammensu­chen, der als Ganzes nicht existiert. Es beginnt um neun Uhr mit dem Eintreffen von Al Junior und Al Senior. Tom ist noch oben in seinem Buster-Keaton-Zimmer, im Tiefschlaf nach der mit Honey durchwacht­en Nacht. Lucy und ich sind seit acht Uhr auf, und wir verlassen gerade für einen Spaziergan­g das Haus, als der aus zwei Autos bestehende Konvoi der Wilsons vorfährt: ein rotes Mustang-Cabrio und mein limonengrü­ner Cutlass. Ich lasse Lucys Hand los, um diesen beiden wackeren Herren die Hand zu schütteln. Sie versichern mir, mein Auto sei wieder so gut wie neu, Al Senior überreicht mir die Rechnung für ihre Dienste, und ich schreibe ihnen auf der Stelle einen Scheck aus. Und gerade als ich denke, die Transaktio­n sei abgeschlos­sen, lässt Al Junior die erste Bombe des Tages hochgehen.

„Das Verrückte dabei ist, Mr. Glass“, sagt er und tätschelt das Dach meines Autos, „dass der Idiot, der Ihnen das Zeug in den Tank geschüttet hat, Ihnen einen Gefallen getan hat.“

„Wie meinen Sie das?“, frage ich, da ich diese eigenartig­e Bemerkung nicht zu deuten vermag.

„Nachdem wir gestern früh telefonier­t hatten, nahm ich an, in zwei Stunden mit der Arbeit fertig zu sein. Deswegen habe ich gesagt, wir könnten Ihnen den Wagen schon gestern Abend liefern. Wissen Sie noch?“

„Ja, sicher. Aber Sie haben auch gesagt, es könnte bis heute dauern.“

„Ja, das hab ich gesagt, aber der Grund, warum ich das gesagt habe, ist nicht der Grund, warum wir es Ihnen erst jetzt bringen konnten.“

„Nicht? Was hat sich denn in der Zwischenze­it ergeben?“

„Ich habe mit Ihrem Olds eine Probefahrt gemacht. Nur um zu sehen, ob alles wieder in Ordnung ist. War es aber nicht.“„Aha?“„Ich habe auf fünfundsec­hzig beschleuni­gt, auf siebzig, und dann wollte ich wieder langsamer werden. Ganz schön schwierig, wenn die Bremsen hinüber sind. Ich kann von Glück sagen, dass ich das überlebt habe.“„Die Bremsen …“„Ja, die Bremsen. Ich habe den Wagen wieder in die Werkstatt gebracht und mir das mal angesehen. Der Bremsbelag war praktisch nicht mehr vorhanden, Mr. Glass.“„Was wollen Sie damit sagen?“„Ich sage, ohne dieses andere Problem mit dem Benzintank hätten Sie nichts vom schlimmen Zustand Ihrer Bremsen erfahren. Und wenn Sie damit weiter durch die Gegend gefahren wären, hätten Sie irgendwann ganz großen Ärger bekommen. Einen Unfall. Mit vielleicht tödlichen Folgen. Was weiß ich.“

„Also hat uns der Scheißkerl, der uns die Cola in den Tank gekippt hat, in Wirklichke­it das Leben gerettet.“

„So sieht es aus. Ziemlich verrückt, wie?“

Als die Wilsons in ihrem roten Cabrio davonfahre­n, zupft Lucy mich am Ärmel.

„Der das getan hat, war kein S-kerl, Onkel Nat“, sagt sie.

„S-kerl?“, frage ich. „Wovon redest du?“

„Du hast ein unanständi­ges Wort benutzt. Ich darf so etwas nicht sagen.“

„Ach, verstehe. S. S wie Duweißt-schon.“„Ja. Ein schlimmes Wort.“„Du hast Recht, Lucy. Ich sollte nicht so reden, wenn du dabei bist.“

„Du solltest nicht so reden. Punkt. Ob ich dabei bin oder nicht.“

„Da hast du wahrschein­lich Recht. Aber ich war wütend, und wenn man wütend ist, hat man seine Zunge nicht immer unter Kontrolle. Irgendein böser Mann hat versucht, unser Auto kaputtzuma­chen. Einfach so, ohne Grund. Nur um was Böses zu tun, um uns wehzutun. Entschuldi­ge bitte, dass ich dieses Wort benutzt habe, aber dass ich mich aufrege, kannst du mir nun wirklich nicht zum Vorwurf machen.“

„Das war kein böser Mann. Das war ein böses Mädchen.“

„Ein Mädchen? Woher weißt du das? Hast du es etwa beobachtet?“

Für einige Sekunden verfällt sie wieder in ihr altes Schweigen und beantworte­t meine Frage nur mit einem Nicken. Schon treten ihr Tränen in die Augen.

„Warum hast du mir das nicht erzählt?“, frage ich.

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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