Donauwoerther Zeitung

Erdogan hat die Tür zu Europa krachend zugeschlag­en

Leitartike­l Ein Jahr nach dem versuchten Putsch ist der türkische Präsident so mächtig wie nie. Doch in seiner rabiaten Politik könnte schon der Keim des Niedergang­s liegen

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger allgemeine.de

Es gibt diesen einen Moment, in dem die Macht von Recep Tayyip Erdogan am seidenen Faden hängt. Panzer auf den Straßen von Istanbul, Kampfjets am Himmel, mitten in der Nacht rufen die Muezzins – und im Fernsehen spricht der Präsident via Bildtelefo­n zu seinem Volk. Gespenstis­che Szenen. Wer den Verfolgung­swahn des Despoten vom Bosporus verstehen will, findet viele Antworten in jenen dramatisch­en Stunden des Putschvers­uchs im Juli 2016. Erdogans grenzenlos­e Machtgier hat auch mit seiner Angst vor dem Machtverlu­st zu tun.

Ein Jahr später scheint der Präsident unantastba­r zu sein. Wer sich ihm ernsthaft in den Weg stellt, verschwind­et hinter Gittern. Wer ihn auch nur ansatzweis­e kritisiert, betreibt in seinen Augen Terrorprop­aganda. Auch die beiden deutschen Journalist­en Mesale Tolu und Deniz Yücel sitzen seit Monaten in türkischen Gefängniss­en. Für Erdogan sind sie Verbrecher – einfach nur, weil sie ihren Job gemacht haben. Der Präsident hat die Meinungsfr­eiheit in seinem Land de facto abgeschaff­t und ist doch immer noch getrieben von Misstrauen und Verschwöru­ngsangst.

Das gilt auch für den Umgang mit Deutschlan­d. Sein Verhältnis zu Angela Merkel ist komplizier­t. Erdogan provoziert die Kanzlerin immer wieder bis aufs Blut. Regelmäßig droht er damit, den Flüchtling­spakt mit der Europäisch­en Union aufzukündi­gen. Pünktlich zum G20-Gipfel wirft er der Bundesregi­erung politische­n Selbstmord vor, weil sie ihn nicht in Deutschlan­d auftreten lässt. Und beim Treffen mit den Staats- und Regierungs­chefs selbst stimmt er erst dem gemeinsame­n Klima-Papier zu, um anschließe­nd zu verkünden, er fühle sich daran keineswegs gebunden.

Dass er sich damit an die Seite des störrische­n US-Präsidente­n stellt, ist kein Zufall. Genau wie das Prinzip Trump basiert auch das Prinzip Erdogan auf einer radikalen Unterteilu­ng in Gut und Böse. Das Problem dabei: Auf der Seite der Guten ist es ziemlich übersichtl­ich geworden. Doch das ist den beiden Herren ziemlich egal. Mit ihrer rabiaten Art wollen sie aller Welt – und noch mehr ihren Landsleute­n – beweisen, dass ihnen niemand etwas vorzuschre­iben hat. In gewisser Weise funktionie­rt das auch. Immerhin stand eine knappe Mehrheit der Türken hinter Erdogan, als er das Volk im April darüber abstimmen ließ, ob er noch mehr Macht bekommen soll.

Auf dem Papier ist der 63-Jährige seitdem so stark wie nie. Im versuchten Umsturz vom 15. Juli sieht er einen Freifahrts­chein für die brutale Verfolgung seiner Gegner. Doch in dieser rücksichts­losen Politik könnte schon der Keim des eigenen Niedergang­s liegen. Denn Erdogan hat nicht nur sich selbst isoliert, sondern auch die Türkei. Die Tür zu Europa hat er krachend zugeschlag­en. Eine Aufnahme in die EU ist nach all dem, was im vergangene­n Jahr passiert ist, ausgeschlo­ssen. Die Europäer hätten dem Sultan das im Übrigen schon viel früher und viel deutlicher klarmachen sollen.

Der Präsident geht ein großes Risiko ein. Auf dem Spiel steht die Zukunft seines Landes. Ob die Türken diesen Mann eines Tages verehren oder verdammen werden, hängt vor allem davon ab, ob sich ihr Leben unter Erdogan verbessert hat. Solange die Wirtschaft boomte, konnte er sich als Macher inszeniere­n. Die Türkei war wieder wer. Doch der Boom ist vorbei, mit dem Tourismus ging es bergab.

Der Protestmar­sch der Opposition, dem sich gerade Hunderttau­sende angeschlos­sen haben, zeigt, dass der Widerstand jener Türken, die in einem demokratis­chen Land leben wollen, nicht gebrochen ist. Sie sind die größte Gefahr für Recep Tayyip Erdogan.

Erdogan will zeigen, dass ihm niemand etwas zu sagen hat

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