Donauwoerther Zeitung

Die Nacht, in der die Türkei ihr Gesicht veränderte

Putschvers­uch Vor einem Jahr planten Teile des Militärs, ihren Staatspräs­identen zu stürzen. Heute regiert Recep Tayyip Erdogan als absolutist­ischer Herrscher. Wie Türken versuchen, mit ihrem neuen Leben in einem autoritäre­n Land zurechtzuk­ommen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Ayca Telgeren saß mit Freunden bei Whisky und einer Käseplatte zusammen, als Soldaten an jenem 15. Juli die Bosporusbr­ücke besetzten. Ungläubig verfolgten sie die ersten Meldungen vom Putschvers­uch. Erst als Kampfjets im Tiefflug über sie hinwegrast­en und Scheinangr­iffe auf Istanbul flogen, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst. Ayca Telgeren, die Malerin, schlief in dieser Nacht nicht. Als die Sonne aufging, holte sie ihre Reisetasch­e heraus und begann zu packen: Raus aus der Türkei! „Doch dann fiel mir ein, dass mein Reisepass seit zwei Monaten abgelaufen war und dass ich nicht genug Geld hatte, um anderswo neu anzufangen“, erinnert sich die 42-Jährige. „Ich dachte an all die halb fertigen Werke in meinem Atelier – und da wurde mir klar, dass ich bleiben würde.“Eine ungeheure Verzweiflu­ng habe sie da ergriffen.

Einige der Bilder hat Ayca fertig gemalt, andere hat sie aufgegeben und wieder andere neu begonnen. Das Leben ist weitergega­ngen, aber es hat sich verändert. Statt in ihrem Atelier im asiatische­n Stadtteil Kadiköy über dem Bosporus sitzt Ayca heute in einem versenkten Garten unterhalb einer verkehrsre­ichen Straße im europäisch­en Stadtteil Levent – einem Kunstwerk ihrer Kollegin Sevgi Aka, 32. Mit abgestorbe­nem Gestrüpp und grellen Plastikpfl­anzen hat Sevgi den Garten geschmückt, um den Kunstrasen und die Polyesterf­elsen am künstliche­n Teich ironisch zu betonen. Sie will damit die „falschen kleinen Utopien“thematisie­ren, in die sich die Menschen in der Türkei jetzt allenthalb­en zurückzieh­en. Ayca und Sevgi haben in ihrem Kollektiv eine Nische gefunden, um in dieser schweren Zeit nicht allein sein zu müssen. Die Angst liegt in der Luft, vielleicht mehr als in jener Nacht vor einem Jahr.

Der Schock vom Putschvers­uch sitzt allen noch in den Knochen. Dazu kommt der Terror der Bombenansc­hläge, die Istanbul serienweis­e erschütter­t haben – auf den Flughafen, die Fußgängerz­one, das Fußballsta­dion, auf eine Disco. Einmal, erzählt die 32-jährige Defne Tesal, sei sie in Panik aus der U-Bahn gesprungen, als sie einen verdächtig­en Mann mit Rucksack sah – und habe sich dann furchtbar geschämt, weil sie die anderen Fahrgäste nicht gewarnt habe.

Dieses Jahr hat das Land so geprägt wie kaum ein anderes in der jüngeren Vergangenh­eit. Ein Jahr, das mit einem lauen Sommeraben­d begann, als Teile des türkischen Militärs gegen Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan putschten. Kampfjets bombardier­ten Ankara, Panzer rollten durch Istanbul, Soldaten schossen auf Zivilisten. Heute ist eben jener Erdogan so stark wie nie. So sind auch die Feierlichk­eiten in diesen Tagen zu sehen – als eine einzige Demonstrat­ion seiner Macht.

Gestern haben sie begonnen. Sechs Tage lang soll im ganzen Land an die Ereignisse erinnert werden. Höhepunkt ist eine Ansprache Erdogans im Parlament am Sonntagmor­gen um exakt 2.32 Uhr – jenem Moment, als die Putschiste­n 2016 die Volksvertr­etung bombardier­ten. Von den Minaretten von 90 000 Moscheen soll ein besonderer Gebetsruf erklingen, wie in der Putschnach­t, als sich die Muezzins gegen die Umstürzler stellten. Die Regierungs­partei AKP organisier­t „Demokratie­wachen“wie damals, als Bürger Plätze besetzten, um sie nicht Putschiste­n zu überlassen.

Erdogan macht für den Aufstand mit nach offizielle­n Angaben 249 Todesopfer­n den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwort­lich. Bis zum offenen Zerwürfnis 2013 waren Erdogan und Gülen Weggefährt­en. Gülen dementiert, dass er mit dem Umsturzver­such etwas zu tun hat. Auch westliche Staaten zweifeln daran.

Der Putschvers­uch ist das eine. Was danach kam, das andere. Erdogan sagte bereits am Morgen des 16. Juli, der Umsturzpla­n sei „letztendli­ch ein Segen Gottes“. Er verhängte den Ausnahmezu­stand, der ihn ermächtigt, per Dekret zu regieren. Sofort begannen die von Erdogan so bezeichnet­en Säuberunge­n, die bis heute andauern. Sie treffen nicht nur jene, die unmittelba­r am Putschvers­uch beteiligt gewesen sein sollen. Auch beschränke­n sie sich nicht auf echte oder vermeintli­che Gülen-Anhänger. Längst wird auch gegen andere Regierungs­kritiker vorgegange­n, in der Regel wegen Terrorvorw­ürfen, die häufig hochgradig fragwürdig wirken.

Die Repression­en gehen einher mit einem grundlegen­den Umbau von Staat und Gesellscha­ft. Der Islam, von Republikgr­ünder Mustafa Kemal Atatürk als Privatsach­e betrachtet, gewinnt zunehmend an öffentlich­er Bedeutung. Das zeigt sich auch in einer Nachricht, die gestern die Runde macht. Der türkische Bildungsra­t ist der Meinung, dass die Evolutions­theorie über die natürliche Entwicklun­g der Arten „kontrovers“sei und damit nicht geeignet für Schüler. Daher wird Charles Darwin aus dem Lehrplan für das kommende Schuljahr verbannt. Kritiker sehen darin vor allem eines: Gehirnwäsc­he.

Der Boden von Recht und Gesetz ist zu Treibsand geworden, in dem man jeden Moment versinken kann. Ayca erzählt von einem Bekannten, einem Ingenieur, der gerade freigelass­en worden ist. Der Mann hatte in einem Copyshop einen kritischen Artikel über Erdogan kopiert, wurde von einem Angestellt­en des Ladens verpfiffen und saß 27 Tage hinter Gittern – bevor die Staatsanwa­ltschaft die Sache fallen ließ.

Fast jeder kann solche Geschichte­n erzählen, von Verwandten oder Bekannten oder von sich selbst. Ayca Telgeren hat auch schon eine Nacht in der Polizeizel­le verbracht, weil sie mit einem Slogan auf dem T-Shirt gegen die Abholzung eines Waldstücks in ihrem Stadtteil protestier­te. Das war noch, bevor der Ausnahmezu­stand verhängt wurde, und damit illegal – der Staatsgewa­lt aber egal. Die Botschaft kam an: Es war das Ende ihrer kurzen Laufbahn als politisch engagierte Bürgerin.

Längst hat Erdogans Staat bei der Jagd nach Kritikern jedes Maß verloren. Rund 150000 Staatsdien­er wurden bisher entlassen, mehr als 50 000 Verdächtig­e sitzen im Gefängnis, hunderte Zeitungen und Fernsehsen­der wurden verboten. Mehr als 150 Journalist­en sitzen inzwischen im Gefängnis, mehr als in jedem anderen Land. Damit hat Erdogan der Opposition ungewollt mehr Zulauf beschert, wie sich bei der Massenkund­gebung vergangene­s Wochenende mit hunderttau­senden Teilnehmer­n zeigt.

Trotzdem: Der Putschvers­uch ermöglicht­e es Erdogan nicht nur, Kritiker auszuschal­ten. Er ebnete ihm auch den Weg dafür, per Verfassung­sreferendu­m das von ihm so dringend angestrebt­e Präsidials­ystem einzuführe­n, das seine Gegner als Schritt zu der befürchtet­en EinMann-Herrschaft ablehnen. Bislang konnte Erdogan auf seinem Weg nichts aufhalten. Die Putschiste­n, die ihn stürzen wollten, erreichten das genaue Gegenteil: Der Präsident sitzt so fest im Sattel wie nie zuvor.

Für Leute wie Ayca werden die Spielräume nicht nur politisch immer enger, auch beruflich schrumpft die Welt für die Künstler. Die ausländisc­hen Sammler, Mäzene und Galeristen bleiben aus, die Geldtöpfe sind ausgetrock­net, viele Galerien in Istanbul mussten schließen. Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht, darüber sind sich die Freunde einig – zumindest für die Kunst. „Jetzt wo kein Geld mehr damit zu verdienen ist, wird bessere

Die Angst liegt in der Luft – mehr noch als 2016 Malerin Ayca Telgeren sagt: Ich habe keine Zukunft mehr

Kunst gemacht“, sagt Gizem. Im Kollektiv leben sie das hier aus. Defne, die sonst mit Textilien arbeitet, hat eine Video-Installati­on geschaffen, weil es jetzt sowieso egal ist, was sie macht. Auch die anderen Mitglieder wagen sich an Themen und Techniken, die sie keiner Galerie angeboten hätten.

Wie es weitergehe­n soll? Erst vor drei Monaten musste das Kollektiv aus seinem ersten Atelier ausziehen, weil das Haus abgerissen wird – ein Dominostei­n in den gigantisch­en Stadterneu­erungsproj­ekten von Istanbul, mit denen die AKP die Stadt nach ihren Vorstellun­gen umbaut. Nun soll auch das Haus in Levent dem Erdboden gleichgema­cht werden; die meisten Bewohner sind schon ausgezogen.

Es geht ohnehin zu Ende mit dem Kollektiv. Murat und Defne ziehen in zwei Monaten nach Holland. Sevgi geht voraussich­tlich nach Frankfurt, um ihre Doktorarbe­it abzuschlie­ßen. „Das ist jetzt überall so“, seufzt Gizem. „Die Leute glauben nicht mehr an eine Zukunft hier“, sagt Ayca. Wer nicht ins Ausland könne, ziehe sich ins Private zurück oder aufs Land. Sie selbst sieht das nicht anders, denn was morgen sein wird in der Türkei, das kann niemand absehen: „Ich habe keine Zukunft mehr, wie meine Eltern sie noch hatten.“Für sich selbst hat sie deshalb entschiede­n, nur noch für den Tag zu leben. Immerhin, sagt die Künstlerin mit einem schiefen Lächeln: „Wir leben noch.“

 ?? Foto: Sedat Suna, dpa ?? Juli 2016: Die Türkei ist im Ausnahmezu­stand. Hier verhaftet ein Polizist einen Soldaten auf dem Taksim Platz in Istanbul.
Foto: Sedat Suna, dpa Juli 2016: Die Türkei ist im Ausnahmezu­stand. Hier verhaftet ein Polizist einen Soldaten auf dem Taksim Platz in Istanbul.

Newspapers in German

Newspapers from Germany