Donauwoerther Zeitung

Mit Goethe im Schnee

Adolf Muschg fantasiert sich frei

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Die Reise war hochgefähr­lich. Wäre sie nicht gut ausgegange­n, hielten wir heute nicht den besten Teil der Weimarer Klassik in Händen. Goethe war erst 30, als er mit seinem Dienstherr­n, dem acht Jahre jüngeren Landesfürs­ten Carl August, den über 2400 m hohen, tief verschneit­en Furkapass am Gotthardma­ssiv überquerte. Das war am 12. November 1779, dem sogenannte­n „Weißen Freitag“. Adolf Muschg liest diesen Tag, der seiner Erzählung den Titel gibt, als „Prüfung des Lebens“. Der 82-jährige, krebskrank­e Autor kreuzt seinen Lebensund Denkweg auf vielfältig­e Weise mit Goethes zweiter Schweizer Reise, in kurzen Kapiteln, in Goethe-Betrachtun­gen, Kindheitse­rinnerunge­n und im Blick auf die eigene kleine Schreibkla­use in Männedorf bei Zürich. Muschg arbeitet versiert mit Spiegelung­en, bricht darin Reales und Literarisc­hes, sein Leben und das Goethes. Das schließt (gelehrte) Manierisme­n nicht aus, auch nicht zähflüssig­e Männerfant­asien, nimmt aber den Leser ein für einen überrasche­nd offenen und zugleich gelassenen Schriftste­ller. Muschg lässt sich von Goethe gleichsam aus seiner Schreibhöh­le auf die Schicksals­höhen emporziehe­n. Hier wie dort steht das Leben auf dem Spiel, am Rand des Unvorherse­hbaren. Einen Trost hält diese Erzählung bereit: Es ist die Kunst, die der schwindend­en Zeit entgegentr­itt. Für Muschg heißt das: Der Tod tritt ein, wenn man nicht mehr schreiben und mit Goethe auf lebensrett­ende Weise fantasiere­n kann. (go)

C.H. Beck, 251 S., 22,95 Euro

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Adolf Muschg: Der weiße Freitag

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