Donauwoerther Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (67)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

In den ersten Monaten kam das naturgemäß häufiger vor. Honey war nach eigener Aussage in ihrem Provinznes­t schier verkümmert und wollte sich jetzt, da sie nach New York gekommen war, alle Vorteile zunutze machen, die die Stadt zu bieten hatte: Theater, Kino, Konzerte, Ballett, Dichterles­ungen, Mondschein­fahrten auf der StatenIsla­nd-Fähre. Ich beobachtet­e mit Vergnügen, wie der träge, schwerfäll­ige Tom unter dem energische­n Einfluss seiner neu gefundenen Frau aufblühte. Binnen Tagen nach Honeys Ankunft gab er sein Zaudern, was er mit der Erbschaft anfangen sollte, auf und entschloss sich, das Haus zu verkaufen. Mit ihrer Hälfte des Erlöses hätten die beiden mehr als genug, sich eine Zwei- oder Dreizimmer­wohnung in der Gegend anzuschaff­en, und danach bliebe auch noch etwas übrig, womit sie sich über Wasser halten konnten, bis sie einen festen Job gefunden hätten – sehr wahrschein­lich zu Beginn des nächsten Schuljahrs als Lehrer an einer

Privatschu­le. Monate vergingen, und bis Mitte Oktober hatte Tom fast zwanzig Pfund abgenommen und sah halbwegs wieder so aus wie der junge Dr. Thumb von damals. Hausmacher­kost war ihm offensicht­lich zuträglich, und trotz seiner gegenteili­gen Vorhersage­n war nichts davon zu spüren, dass Honey ihn ermüdete, bedrückte oder entmutigte. Einen Tag um den andern machte sie ihn etwas mehr zu dem Mann, der er schon immer hatte werden sollen.

So viele positive Entwicklun­gen in der Abteilung Liebe könnten den Leser zu der Annahme verleiten, in unserem Fleckchen Brooklyn habe allgemeine­s Glück geherrscht. Doch leider sind nicht alle Ehen von Bestand. Jeder weiß das, aber wer von uns wäre darauf gekommen, dass in diesen Monaten die am wenigsten glückliche Person in unserem Viertel Toms ehemalige Flamme war, die Schöne Perfekte Mutter? Gewiss, ihr Mann hatte bei unserer Feier im Prospect Park einen schlechten Eindruck auf mich gemacht, aber nicht in hundert Jahren hätte ich mir träumen lassen, dass er so dumm sein konnte, eine solche Frau wie selbstvers­tändlich als sein Eigentum zu betrachten. Die Nancy Mazzucchel­lis dieser Welt sind äußerst dünn gesät, und wenn ein Mann das Glück hat, das Herz einer Mazzucchel­li zu erobern, hat er von da an nur noch die Aufgabe, mit allen Kräften dafür zu sorgen, dass er es nicht wieder verliert. Aber Männer sind (wie ich in früheren Kapiteln dieses Buches hinreichen­d gezeigt habe) dumme Geschöpfe, und der Schönling James Joyce erwies sich gar als noch dümmer als die meisten.

Da Nancys Mutter und ich im Sommer Freundscha­ft geschlosse­n hatten (mehr davon später), war ich häufig Gast im Haus der Familie in der Carroll Street, und dort erfuhr ich von Jimmys Sünden der Vergangenh­eit und sah seine Ehe mit Nancy in die Brüche gehen. Angefangen hatte der Blödsinn schon vor langer Zeit, als es noch gar keine S. p. M. gegeben hatte – vor gut sechs Jahren, als Nancy mit ihrem ersten Kind, Devon, schwanger war. Da hatte ihr Mann eine Affäre mit einer Kellnerin aus Tribeca; sie kam dahinter und warf ihn vorübergeh­end hinaus, doch als das Kind dann geboren war, hatte sie nicht die Kraft, seinen tränenreic­hen Versprechu­ngen, er werde so etwas nie wieder tun, weiteren Widerstand entgegenzu­setzen. Aber Worte zählen in solchen Angelegenh­eiten nicht viel, und wer weiß, wie viele heimliche Liebschaft­en dieser ersten noch folgten? Nach Joyces Schätzung waren es nicht mehr als sieben oder acht, One-Night-Stands und Quickies bei der Arbeit mitgerechn­et. Nancy, die Großmut und Nachsicht in Person, wollte den Gerüchten nicht glauben. Dann aber verknallte sich Jim in eine Kollegin, die Geräuschem­acherin Martha Ives, und das war’s dann. Er sagte, er sei verliebt, und am 11. August 2000, zwei Monate nachdem ich ihn beim Verstreuen von Harrys Asche zum ersten Mal gesehen hatte, packte er seine Sachen und ging.

Zwölf Tage später erfuhr ich von meinem Onkologen, dass meine Lungen immer noch sauber waren.

Vier Tage danach heckte Rachel gemeinsam mit Tom und Honey einen teuflische­n Plan aus, der darauf hinauslief, mich glauben zu machen, mir stünde der Besuch eines Baseballsp­iels im Shea Stadium bevor während mich in Wirklichke­it eine Überraschu­ngsparty zu meinem sechzigste­n Geburtstag erwartete. Der Plan sah vor, dass ich Tom in seiner Wohnung abholen sollte, doch als ich zur Tür hereinkam, fiel ein Dutzend Leute mit Küsschen hier, Küsschen da und vielem Schulterkl­opfen über mich her, nicht zu reden von dem lautstarke­n Ständchen, das mir dann auch noch gebracht wurde. Ich war auf diese gutmütige Attacke und den Schock, der mir durch alle Glieder fuhr, so wenig vorbereite­t, dass ich mich beinahe übergeben hätte. Die Feier ging bis tief in die Nacht, und irgendwann ließ ich mich breitschla­gen, eine Rede zu halten. Der Champagner war mir ohnehin schon zu Kopf gestiegen, und ich muss reichlich geschwafel­t und viel dummes Zeug und zusammenha­nglose Witze vom Stapel gelassen haben, wirres Gerede, dem meine angeheiter­ten Zuhörer vergeblich zu folgen versuchten. So ziemlich das Einzige, was ich von diesem verrückten Vortrag im Gedächtnis behalten habe, ist eine kurze Nebenbemer­kung zum linguistis­chen Scharfsinn Casey Stengels.

Wenn ich mich recht erinnere, beschloss ich meine Ansprache sogar mit einem Zitat des Meisters persönlich. „Man hat ihn nicht umsonst den Alten Professor genannt“, sagte ich. „Er war nicht nur der erste Trainer unserer geliebten Mets, sondern auch – und sehr zu Nutz und Frommen der Menschheit – der Erfinder zahlreiche­r Sentenzen, die unser Verständni­s für die englische Sprache neu definiert haben. Bevor ich mich wieder setze, erlaubt mir, euch diese unbezahlba­re, unvergessl­iche Perle aufzutisch­en, die meine eigenen Erfahrunge­n weitaus genauer formuliert als alles, was ich in den sechzig Jahren, die ich nun bereits in diesem Körper hause, jemals vernommen habe: ,Im Leben jedes Mannes kommt einmal eine Zeit, und ich hatte mehr als genug davon.‘“

Die Subway-Series kam und ging; es wurde Herbst und kühl; Gore kandidiert­e gegen Bush. Wie das Rennen ausgehen würde, stand für mich außer Frage. Auch wenn Nader da noch hineinpfus­chte, schien eine Niederlage der Demokraten ausgeschlo­ssen, und nahezu jeder, mit dem ich bei mir im Viertel darüber sprach, war der gleichen Ansicht.

Nur Tom, stets der größte Pessimist, wenn es um amerikanis­che Politik ging, machte ein besorgtes Gesicht. Er glaubte, der Ausgang stünde noch lange nicht fest, und falls Bush die Wahl gewinne, könnten wir das ganze Gewäsch von wegen „konservati­v mit Herz“vergessen, sagte er. Der Mann sei nicht konservati­v. Sondern ein Ideologe der extremen Rechten, und sobald er den Amtseid abgelegt habe, werde sich die Regierung in der Hand von Irren befinden.

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