Donauwoerther Zeitung

Nehmen Sie Ihr Kind so ernst wie sich selbst

Ratgeber Familienth­erapeut Jesper Juul erklärt Eltern, was er unter Gleichwürd­igkeit versteht

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Gleichwürd­igkeit ist nicht gleichzuse­tzen mit Gleichheit. Wenn ich über Gleichwürd­igkeit zwischen Erwachsene­n und Kindern spreche, regen sich viele Erwachsene (nicht nur Eltern, sondern auch Pädagogen) sehr auf, denn sie verstehen unter diesem Begriff unmittelba­r etwas anderes, nämlich Gleichheit – dass die Kinder genau die gleiche Macht haben wie die Eltern. So ist es natürlich nicht gemeint, deswegen heißt es Gleichwürd­igkeit.

Es gibt keinen Zweifel an der Tatsache, und sie lässt sich auch nicht ändern: In einer Familie haben die Erwachsene­n die ganze Macht. Sie können sich zwar machtlos fühlen, und wir erleben viele Familien, in denen die Kinder eigentlich auf dem Führersitz sitzen, doch das ist nur möglich, wenn die Eltern ihre Macht nicht haben wollen. Macht ist für manche Menschen kein sehr schönes Wort. Die meisten von uns wurden mit demokratis­chen Wertvorste­llungen erzogen, zumindest politisch. Dazu möchte ich sagen, dass die demokratis­chen Wertvorste­llungen sehr wertvoll sind – auch innerhalb von Familien oder bei Paaren –, doch sie reichen nicht aus. Politische Wertvorste­llungen haben im Grunde nur mit zwei Themen zu tun: Verteilung von Geld und Macht. Dagegen geht es bei Familien oder bei dem Zusammenle­ben innerhalb von Familien um viel mehr als um die Verteilung von Macht und Geld. Wir brauchen also andere Wertvorste­llungen.

Gleichwürd­igkeit bedeutet, dass ich als Partner/Partnerin oder als Vater/Mutter meinen Partner oder mein Kind genauso ernst nehmen sollte wie mich selbst. Ich muss versuchen, die Bedürfniss­e, Wünsche, Träume und Ambitionen meiner Frau, meines Mannes oder meines Kindes mit einzubezie­hen, statt sie zu ignorieren und zu sagen: „Das kommt nicht infrage“, oder: „Darüber können wir reden, wenn du erwachsen bist.“Das ist eine sehr schwierige Übung, aber es lohnt sich – mit Kindern und mit Erwachsene­n.

Wir haben uns jetzt dreißig Jahre lang darin geübt, und wir haben viel Erfolg gehabt. Doch ich glaube, es dauert noch eine Generation, bis diese Gleichwürd­igkeit selbstvers­tändlich und nicht mehr so schwierig für uns alle ist. In meiner Generation haben die Frauen sich entschiede­n und gesagt: „Jetzt wollen wir nicht mehr nur funktionie­ren, wir wollen auch anerkannt werden als vollwertig­e Menschen. Wir wollen nicht nur in unserer traditione­llen Rolle leben, wir wollen auch keine Partnersch­aft, die nur ein Rollenspie­l ist. Wie machen wir das?“

Meine Generation hat auch gesagt: „Väter sollten eigentlich ein integriert­er Teil von Familie sein.“Das ist in unserer Geschichte eine ganz neue Vorstellun­g, denn Väter waren (…) bis dahin nie in Familien integriert, sie waren immer an der Peripherie, am Rand, am Geldverdie­nen. Sie haben sozusagen funktionie­rt, aber sie waren nie Teil der gefühlsmäß­igen Infrastruk­tur innerhalb der Familie. Dafür waren die Frauen verantwort­lich, und das haben die Frauen übernommen. Heute legen wir Wert darauf, dass Väter das auch machen. Das ging am Anfang über Hausarbeit, Kochen und Ähnliches – heute haben wir die nächste Stufe erklommen: Wir reden darüber, was es heißt, Vater zu sein.

Gleichwürd­igkeit ist wichtig, aber sie macht Familie und Beziehung auch sehr schwierig. Die Frage ist, wie man in der Familie gleichwürd­ig Führerscha­ft ausüben kann. Dazu gehört, wie bereits erwähnt, dass man die Bedürfniss­e, Wünsche, Träume, Ideen und Gedanken des anderen einbeziehe­n muss. Man muss nicht notwendige­rweise alles mitmachen, aber man muss ihn oder sie ernst nehmen und wahrnehmen.

An dieser Stelle wollte der bekannte Familienth­erapeut Jesper Juul Fragen unserer Leser beantworte­n. Das ist ihm im Moment krankheits­bedingt nicht möglich, wird aber nachgeholt. Daher drucken wir heute einen Auszug aus seinem Buch:

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Foto: FamilyLab Der Däne Jesper Juul ist ei ner der bekanntest­en Fa milienther­apeuten Euro pas.
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Jesper Juul: Leitwöl fe sein – Liebevolle Führung in der Fami lie. Beltz, 216 Seiten, 17,95 Euro

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