Wenn das Geld im Alter fehlt
Armut Viele Senioren aus der Region leben unter dem Existenzminimum. So geht es auch einer Rentnerin aus dem südlichen Landkreis. Depressionen und ein Suizidversuch reißen sie aus der Arbeitswelt
Landkreis Alexandra Müller* geht durch die Gänge in einem Discounter im südlichen Landkreis. Ihr Blick streift abgepackte Semmeln zum Aufbacken. Kleidung, die auf Wühltischen wild durcheinander liegt. In ihrem Einkaufwagen landet nichts. Als sie das Obst- und Gemüseregal erreicht, bleibt sie stehen. Sie nimmt sich eine Packung mit großen, hellen Champignons. 1,99 Euro. Sie legt die Pilze wieder zurück und greift zu rot leuchtenden Tomaten. „Die würde ich mir jetzt mitnehmen“, sagt Müller leise. Doch es bleibt an diesem Vormittag beim Konjunktiv.
Es ist Mitte des Monats. In Müllers Geldbeutel liegen exakt 90 Cent. Sie, Anfang 60, ist eine von vielen,
„Ich wollte mit dem Auto gegen irgendetwas fahren und mich umbringen. Erst als mein Sohn mich anschrie, erwachte ich aus einer Art Koma.“
Alexandra Müller*
die im Alter unter Armut leiden (siehe Infokasten). Müller hat lange in der Gastronomie gearbeitet. Nebenbei zog sie ihre drei Kinder quasi alleine auf. Doch 2007 änderte sich ihr Leben. Sie hielt dem Druck nervlich nicht mehr stand und rutschte in tiefe Depressionen ab. „Ich hatte Weinkrämpfe. Man sitzt in einem Loch, lässt niemanden mehr an sich heran. Das Leben ergibt keinen Sinn mehr“, beschreibt Müller diese Phasen.
2009 werden aus den dunklen Gedanken beinahe Realität: Alexandra Müller sitzt in ihrem Auto und hat bereits den Motor angelassen. Kurz bevor sie losfahren will, springt ihr Sohn vor den Wagen und brüllt seine Mutter an. „Ich wollte mit dem Auto gegen irgendetwas fahren und mich umbringen. Erst als mein Sohn mich anschrie, erwachte ich aus einer Art Koma.“Ihre damals zehnjährige Tochter hatte geistesgegenwärtig ihren älteren Bruder verständigt. Dieser raste umgehend zum Haus der Mutter. „Nach dem Suizidversuch bin ich freiwillig in eine psychosomatische Klinik gegangen“, erinnert sich die Rentnerin.
Seit diesen Ereignissen ist an Arbeit nicht mehr zu denken. „Ich würde so gerne arbeiten gehen, aber sobald Druck und Stress zu groß werden, halte ich das nervlich nicht aus“, sagt Müller. Seit 1. Mai kassiert sie eine Rente in Höhe von 720 Euro. Damit lebt die Mutter dreier Kinder unter dem Existenzminimum.
Davon müsste sie normalerweise ihre Warmmiete von 450 Euro
stemmen. „Aktuell verzichtet meine Vermieterin auf das Geld.“Sonst reiche die Rente nur bis Mitte des Monats. Dann gebe es ein paar Wochen lang nur Nudeln, sagt Müller. Doch sie kann neben der Unterstützung ihrer Vermieterin auch auf die Hilfe ihrer Kinder zählen: „Oft bringt mir mein Sohn Lebensmittel vom Einkauf mit. Es geht irgendwie, aber nur mithilfe anderer.“
Von Luxus ist bei Müller keine Spur. Sie wohnt im ersten Stock. Nur mühsam und unter schmerzvollem Stöhnen klettert sie Stufe um Stufe nach oben. Auch deshalb gleicht die Wohnung aktuell einer Baustelle. Müllers Vermieterin baut die Räume im Erdgeschoss gerade behindertengerecht um, denn
Müller leidet an Osteoporose.
Im Wohnzimmer im ersten Stock steht ein großer brauner Holztisch. Ansonsten hängen ein paar Bilder an der Wand. Die Küche ist genauso alt wie die Kommoden. Müller hat kein Auto mehr, auch die Versicherungen habe sie gekündigt. Nur von ihren beiden Hunden will sich die Rentnerin nicht trennen.
Müller macht immer wieder deutlich, dass es ihr trotz ihrer Notsituation gut gehe. Ihr Zorn richtet sich gegen Ämter und Politik: „Viele sagen immer, in Deutschland bekommt man alles, aber die Realität sieht anders aus. Es gibt so viele Menschen, die im Alter ganz alleine sind. Ich habe ja meine Kinder und
Freunde.“Die Rentnerin macht auch traurig, wie sie von den Ämtern behandelt wird. „Vergangenes Jahr ist meine Waschmaschine kaputt gegangen. Das Jobcenter sagte mir, eine neue müsse ich mir selbst zusammensparen“, sagt sie. „Wie dort mit Leuten umgegangen wird, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, ist schlimm. Man wird als Bettler abgestempelt.“
Auch deshalb entscheid sich Müller für einen radikalen Schritt: „Ich gehe nicht mehr zur Sozialhilfe. Da muss ich alles angeben, alle Kontoauszüge offenlegen, mich sogar für ein Geschenk in Höhe von 50 Euro rechtfertigen“, erklärt die Frau. Sie möchte wieder selbstständig sein und hat einen Traum, der ihr das erAlexandra
möglichen könnte. „Meine einzige Chance wäre eine Arbeit ohne Zeitdruck. Daheim werde ich einfach wahnsinnig.“
Nur schwer kann sich Müller vom Obst- und Gemüseregal lösen. Zehn Minuten steht sie größtenteils mit dem Rücken zu Bananen, Gurken und Salat. Ab und zu dreht sie sich um, nimmt eine Gemüsesorte in die Hand, riecht daran und legt sie wieder zurück. „Hier zu stehen, ist gerade eine Tortur“, sagt die Rentnerin.
An diesem Vormittag verlässt Müller mit leeren Händen und leerem Magen den Discounter. Aber das mache nichts – sie habe ja noch Nudeln zu Hause.