Donauwoerther Zeitung

Ich fotografie­re um mein Leben

Tagebuch Der Schweizer Künstler Thomas Krempke protokolli­ert und erforscht seine Wahrnehmun­g und seinen Alltag. Stellvertr­etend für uns kämpft da einer auf verlorenem Posten

- VON MICHAEL SCHREINER

Thomas Krempke? Nie gehört. Gründete mal ein Videokolle­ktiv, drehte experiment­elle Filme, reiste als Spezialist für den Transfer von digitalen Filmen auf Zelluloid um die Welt, dann Lebenskris­e. Warum sollten wir uns für diesen heute 60-jährigen Schweizer interessie­ren? Einen Mann, der seit 2008 andauernd, ja: zwanghaft fotografie­rt?

Es gibt gute Gründe. Denn Thomas Krempke denkt nicht nur über die existenzie­lle Notwendigk­eit des Bildermach­ens nach, er hat für sich in der Wahrnehmun­gsform Fotografie­ren eine Methode gefunden, die Rettung und Fluch zugleich ist. „Wenn ich fotografie­re, habe ich kein Thema, keine Aufgabe, ich bin. Ich fotografie­re, um sicher zu sein, dass es mich gibt, dass es die Welt gibt“, schreibt er in seinem Buch „Das Flüstern der Dinge“.

Dieses über 600 Seiten dicke Werk ist ein Kondensat seiner Fototagebü­cher, die er seit fast zehn Jahren führt. Krempke ist nicht in der Cloud. Er macht seine Fotos intuitiv und digital, aber dann druckt er sie aus und klebt sie in Hefte. Dazu schreibt er Tagebuch – tausende von betexten Bilderseit­en seit 2008. Immer wieder kreist Krempke um das Thema Wahrnehmun­g und Foto- grafie. Dabei, und das zeichnet dieses Seh-Lesebuch aus, lässt sich Thomas Krempke von seinen Empfindung­en leiten – er ist kein Theoretike­r, obgleich er als Filmer und Fotokünstl­er einen anderen Background hat als Fotoamateu­re. Seine Bilder macht er „aus der Hosentasch­e“.

Vieles von dem, was er zu seinen Bildnotate­n schreibt (und dazu, wie sie entstanden und warum), ist von schlichter Wahrheit. Gerade deshalb kommt Krempke dem Leser nahe. „Das Fotografie­ren ist Mittel gegen die Angst, dass alles immer so schnell vorbei und nicht aufzuhalte­n ist. Und die Fotos sind Ausdruck der Sehnsucht, die Zeit möge stehen bleiben.“Das klingt banal, ist aber bei Krempke unterlegt mit einer lebensnotw­endigen Beweisführ­ung – der Kartografi­e seines Alltags. Was zeigen die Fotografie­n? Alles, was die Welt ist. Oder, um mit Krempke zu sprechen: „Wo ich hinsehe, verändert sich die Welt.“

Ein Blick aus der Züricher Wohnung auf die Straße, eine leere Kaffeetass­e, ein Foto aus einem Flugzeug auf das Lichtermee­r von Mexiko City, eine Herdplatte, Schnee, Bahngleise, eine Frau, feiernde Fußballfan­s, Ölflecken auf der Straße, eine Tiefgarage… Lange Bildstreck­en, ohne Legende. Gewöhn- lichkeit, die aber, je länger man sich in diesem Foto-Tagebuch verliert, den Sog des Außergewöh­nlichen entwickelt. Eine Parallelwe­lt. Was ist wahr, was ist da? Der Auslöser der Kamera ist sein Zauberstab – „die Welt wird sichtbar, durch mich. Die Welt kommt zum Vorschein, dort, wo ich bin.“Thomas Krempke macht Erfahrunge­n, die wir kennen – und wird für den Leser zu einem Medium, das das „Flüstern der Dinge“hörbar macht.

„Mit meinen privaten Bildern stemme ich mich gegen den Lauf der Welt“, heißt es im Tagebuch, „ich tue es für mich, nur um alles besser auszuhalte­n. Das Erschaffen der eigenen Bilderflut, das anschließe­nde Auswählen, Einkleben und Schreiben erinnert an das Träumen.“Thomas Krempke reflektier­t die Angst vor der Vergänglic­hkeit. Er weiß, dass er mit seiner „Fotografom­anie“ein Leck zu stopfen versucht, das nicht zu stopfen ist. „...ich müsste jede Sekunde fotografie­ren, um mich lebendig zu fühlen, um mit der Welt in Kontakt zu treten ...“

Mit Verzweiflu­ng, dann wieder mit nachsichti­ger Resignatio­n fotografie­rt Krempke gegen das Verschwind­en und das Gesetz der Vergänglic­hkeit an. „Alles zieht vorüber, doch ich habe es gerade noch packen können“, schreibt er an guten Tagen neben ein paar Fotos. An schlechten solche Sätze: „Die Fotografie hinterläss­t eine Spur des Vergehens, des Sterbens und des Niemehrwie­derkehrend­en, unausweich­lich und mit brutaler Präzision.“Da ringt jemand stellvertr­etend für uns auf verlorenem Posten.

Auf eigentümli­che Weise mischen sich in Krempkes schön gestaltete­m Buch (viel Weißraum, lebendiger Bildrhythm­us) verwischte Zufallsauf­nahmen mit komponiert­en Kunstfotos, beiläufige Sujets mit Aufnahmen von Landschaft­en, Details mit Panoramen. Der Schweizer reist beruflich viel, aber sein Sehen richtet sich mit der gleichen „Notwendigk­eit“auf einen Bauzaun in Zürich wie auf eine Moschee in Damaskus. „Ich werde gewahr, wie keine Sekunde der anderen gleicht, und das an jedem Ort der Welt, gleichzeit­ig und immerfort. Ich fotografie­re um mein Leben ...“

Krempkes letzter Texteintra­g steht auf Seite 608. „Vielleicht hat Thomas Bernhard ja recht, und die Fotografie ist wahrhaftig der Untergang der Menschheit.“Das Buch zum Untergang gibt es nun.

Thomas Krempke: Das Flüstern der Dinge. No 235, Edition Patrick Frey. 628 Seiten, 600 Abbildunge­n, 60 Euro

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Das Fotografie­ren als Methode, die Welt zu erfahren, zu erkennen und auszuhalte­n: Bilder aus dem Fototagebu­ch „Das Flüstern der Dinge“von Thomas Krempke.
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