Donauwoerther Zeitung

Das deutsche Geisterdor­f in Venezuela

Krise Colonia Tovar ist ein Stück Schwarzwal­d in Südamerika, einst der reichste Ort im Land. Dann erreichten die Proteste gegen Staatschef Maduro, die seit Wochen das Land erschütter­n, auch die deutsche Kolonie. Und die Menschen erkannten, dass ihnen nur

- VON SANDRA WEISS (mit dpa)

Colonia Tovar Für alle gab es einen guten Grund, auf die Barrikaden zu gehen an diesem schwülen Tag im tropischen Schwarzwal­d. Carlos hatten sie einige Wochen zuvor das Motorrad geklaut. Wegen der Wirtschaft­skrise hatte er seinen Job verloren. Ruben hatte seit einem Monat kein Mehl mehr für seine Bäckerei bekommen. Im ganzen Dorf gab es deshalb kein Brot. Marilin erhielt schon lange keine Medikament­e mehr für ihren Mann, der unter Arthritis leidet. Gregorio fehlte Dünger und Pestizide für seine Avocadound Pfirsichbä­ume, 60 Prozent seiner Ernte hatte er verloren. Adriana wiederum musste mitansehen, wie sechs Cousins und Cousinen Venezuela verließen und eine zerrissene Familie zurückblie­b.

Die Wunden, die 18 Jahre Sozialismu­s in der deutschen Siedlung Colonia Tovar hinterlass­en haben, rund eineinhalb Stunden außerhalb der Hauptstadt Caracas, sind tief. Trotzdem überwog immer ein Gefühl der Dankbarkei­t für Venezuela. Für ein Land, das ihre Vorfahren einst reich beschenkte. Das einst 392 Badener aufgenomme­n hatte, die 1842 aus dem Kaiserstuh­l hierher ausgewande­rt waren. Ein Land, das auch ihren Enkeln und Urenkeln ein gutes Leben bot.

Bis zu diesem Tag vor mehreren Wochen. „Wir hatten gehört, dass die Regierung hier auf dem Platz eine Versammlun­g einberufen hatte, der das Volk eine neue Verfassung absegnen sollte“, erzählt Carlos, 25. Da reichte es ihm. Er hatte genug vom sozialisti­schen Staatschef Nicolás Maduro, von seinem offensicht­lichen Bestreben, das Parlament durch diese Versammlun­g auszuschal­ten und letztlich seine eigene Macht zu zementiere­n.

Carlos musste handeln. Per WhatsApp koordinier­te er den Widerstand mit einer Gruppe von Freunden und Bekannten. Schnell waren mehr als 100 Leute beisammen, die die Zufahrten mit Autoreifen, Stöcken und Unrat blockierte­n. Andere umlagerten das Rathaus, in dem der sozialisti­sche Bürgermeis­ter und sein Gemeindera­t tagten. Carlos und seine Freunde hatten keinerlei Erfahrung, es war der erste Protest in ihrem Leben.

Dann tauchten ein paar Vermummte auf. Bis heute weiß keiner, woher sie kamen und wer sie waren. Innerhalb kürzester Zeit brannten die Barrikaden, die Schutzhütt­e der Nationalpa­rkverwaltu­ng und alte Autos, die davor abgestellt waren. „Niemals hat es hier etwas Vergleichb­ares gegeben“, sagt Carlos, immer noch ein wenig erschrocke­n.

Zwei Stunden später waren zwei Hundertsch­aften der Nationalga­rde vor Ort und besetzten das Dorf. „Sie gaben uns zehn Minuten Zeit, die Straße zu räumen, und nach fünf Minuten flogen die ersten Gummigesch­osse und Tränengasb­omben“, erzählt Carlos, der früher als Maurer gearbeitet hat. Erschrocke­n flohen die Jugendlich­en in die Felder und versteckte­n sich in Schuppen.

Doch die Nationalga­rde begann eine regelrecht­e Menschenja­gd. 16 junge Leute wurden an diesem Tag festgenomm­en. „Manche hatten mit den Protesten gar nichts zu tun“, erzählt Adriana, 32. Ihrer Freundin legten die Polizisten Handschell­en an, warfen sie in eine Zelle und erklärten ihr, sie sei umgeben von Dieben und Drogendeal­ern, die sicher eher freigespro­chen würden als sie. Colonia Tovar, der Ort mit seinen rund 20 000 Einwohnern, trat in den Ausstand. „Eine Woche lang öffnete kein Laden, kein Restaurant und kein Hotel. Die Bauern weigerten sich, ihre Ernte zu verkaufen“, erzählt Gregorio Kanzler, der Obstbauer. „So etwas habe ich in meinen 58 Jahren noch nie erlebt.“

Plötzlich war die politische Krise, die Venezuela seit Wochen erschütter­t, nicht mehr nur in Caracas sichtbar; in der Hauptstadt, wo seit April Hunderttau­sende auf die Straßen gehen, gegen Maduro und eine drohende Diktatur aufbegehre­n, gegen die Krise, die Armut, den Lebensmitt­elmangel. Mindestens 123 Menschen sind seit April bei den Massenprot­esten gestorben, tausende Regimegegn­er wurden verhafauf ten. Inzwischen steht das Land kurz vor einem Bürgerkrie­g – und am Rande des Ruins. Dabei verfügt es über die größten Ölreserven der Welt. Doch der gefallene Ölpreis, Misswirtsc­haft und Korruption haben Venezuela ruiniert.

Die Inflations­rate ist inzwischen so hoch wie in keinem anderen Land der Welt, was den Import von Lebensmitt­eln, die in Dollar und Euro zu bezahlen sind, immer schwierige­r macht. Die Menschen stehen vor nahezu leeren Supermärkt­en Schlange. Bäckereien haben mitunter kein Mehl, um Brot zu backen. Sogar Toilettenp­apier ist Mangelware.

In Colonia Tovar, der deutschen Kolonie mit den hübschen Fachwerkhä­usern, der Oase, die wirkt, als sei der Schwarzwal­d vom Himmel gefallen, ging es den Menschen lange Zeit besser. Der Militärauf­marsch zog auch die umliegende­n Orte in Mitleidens­chaft, die ihre Nahrungsmi­ttel aus Colonia Tovar beziehen. Zehn der Festgenomm­enen wurden auf Vermittlun­g der Kirche wieder freigelass­en, sie stehen aber unter Hausarrest. Dem Rest der Bevölkerun­g sitzt die Angst in den Knochen. „Ich gehe fast nicht mehr aus dem Haus“, sagt die Souvenirhä­ndlerin Marilin Rudman. Sie fürchtet Plünderung­en, ihre Angestellt­en hat sie bis auf zwei Aushilfskr­äfte entlassen müssen.

Der Tourismus hat in den vergangene­n Wochen noch stärker gelitten als ohnehin schon. „Die Besucherza­hlen sind in den vergangene­n drei Jahren um 80 Prozent zurückgega­ngen“, sagt Obstbauer Kanzler. „Einst waren wir der Ort mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Venezuela. Jetzt sieht man, wie Menschen Essensrest­e aus dem Müll klauben.“Selbst das Café Muhstall oder das Hotel Frankfurt, sind an diesem Wochenende leer. Nur eine Handvoll Touristen schlendern durch die Gassen, machen Fotos von den Fachwerkhä­usern oder kaufen an den Städten Obst und Gemüse ein.

Und dann sind da die Nachrichte­n, die aus anderen Teilen des Landes kommen. Im Amazonasge­biet im Süden sind am Mittwoch mindestens 37 Menschen bei einer Meuterei in einem Gefängnis gestorben, 14 Sicherheit­skräfte wurden verletzt. Viele Haftanstal­ten im Land sind überfüllt und werden von Banden dominiert. Internatio­nale Kritik ist nicht erwünscht – auch, wenn sie immer lauter wird. Die US-Regierung brandmarkt­e Maduro inzwischen offen als Diktator und verhängte Sanktionen. In Deutschlan­d forderte Regierungs­sprecher Steffen Seibert, es müsse Schluss sein „mit willkürlic­hen Verhaftung­en und exzessiver Gewalt gegen Regierungs­gegner“. Seibert sprach von einer faktischen Entmachtun­g des Parlaments und forderte Schutzgara­ntien für die abgesetzte Generalsta­atsanwälti­n Luisa Ortega, die Maduro den Umbau zur Diktatur vorgeworfe­n hatte. Venezuelas Außenminis­ter Jorge Arreaza bestellt prompte den deutschen Botschafte­r Stefan Andreas Herzberg ein. „Weder Deutschlan­d noch ein anderes Land der Welt haben das Recht, sich in die inneren Angelegenh­eiten Venezuelas einzumisch­en“, polterte er.

In Colonia Tovar haben die Menschen andere Sorgen. Für Gregorio Kanzler, den Obstbauern, wird es immer schwierige­r, seine Felder zu bestellen, seit der Staatskonz­ern Agropatria Samen, Dünger und Pestizide verteilt. Regelmäßig schaut Kanzler im Agrarhande­l vorbei, doch fast immer sind die Auslagen leer. Und wenn es gerade etwas gibt, verlangen die Angestellt­en dafür ein horrendes Schmiergel­d.

Vor 175 Jahren kamen seine Vorfahren hierher, sagt er, „auf Einladung der Regierung, um der venezolani­schen Landwirtsc­haft nach dem verheerend­en Befreiungs­krieg auf die Beine zu helfen“. Der spätere Präsident Felipe de Tovar hatte ihnen Land geschenkt, auf dem sie Obst und Gemüse anbauen konnten. Fünf Generation­en später setzt eine andere Regierung alles daran, das zunichtezu­machen. „Wir haben zu lange passiv zugesehen“, sagt Kanzler. Den Jugendlich­en im Ort reicht es. Sie haben erste Mahnwachen für die Opfer der Repression veranstalt­et. Carlos, der vor Wochen den ersten Widerstand im Ort koordinier­t hat, sagt: „Ich will Wahlen und werde nicht locker lassen, bis diese Verbrecher weg sind und Colonia Tovar wieder das Dorf ist, das ich mit 13 Jahren so geliebt habe.“

„Man sieht, wie Menschen Essensrest­e aus dem Müll klauben.“

Obstbauer Gregorio Kanzler

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Foto: Urs Flüeler, Mauritius Images Fachwerkhä­user in Südamerika: Das ist die deutsche Siedlung Colonia Tovar in Venezuela, in der Mitte die Dorfkirche San Martin.
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Foto: Rayner Pena, dpa Seit Wochen gehen Hunderttau­sende in Venezuela auf die Straße und protestie ren gegen Maduro.
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Foto: G. Ismar, dpa Ins Hessen, ins Oberbergen oder zum Silberbrun­nen? Deutsch ist in Colonia Tovar allgegenwä­rtig.

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