Donauwoerther Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (12)

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Mir wurde die Erinnerung körperlich unangenehm.

Ich habe mich immer wieder mit dem Gedanken getröstet, dass ich, wenn ich mich hier nicht so verrannt hätte, die Ehe mit meiner Frau nicht so erfolgreic­h durchgezog­en hätte. Jedes Schlechte hat auch ein Gutes, sagte meine Frau gerne.

Ändern lässt sich an der Vergangenh­eit nichts mehr. Damit habe ich schon lange meinen Frieden gemacht. Nur schwer mache ich meinen Frieden damit, dass die Vergangenh­eit immer wieder keinen rechten Sinn macht. Vielleicht hat jedes Schlechte ein Gutes. Aber vielleicht ist jedes Schlechte auch nur schlecht.

Am Samstag nahm ich das Boot zum Ende der Bucht, zum grünen Streifen Land, hinter dem das offene Meer liegt. Nicht dass ich vom Botanische­n Garten genug gehabt hätte. Ich dachte, ich dürfte mich nicht Tag um Tag mit diesem kleinen Lebenskrei­s bescheiden. Ich habe mich auch nie damit begnügt, im Urlaub

am Meer in der Sonne zu liegen, sondern immer die Umgebung erkundet und die Orte am Meer so ausgesucht, dass es eine Umgebung zu erkunden gab.

Die Fahrt ging an einer kleinen Insel vorbei, vor langer Zeit für einen imaginären Krieg mit einem imaginären Feind befestigt, an grau und rostig dümpelnden Kriegsschi­ffen, an Häusern am Wasser, in denen das Leben leicht und heiter sein musste, an Wäldern und gelegentli­chen Badestränd­en und Jachthäfen. Die Sonne, der Wind, der Geruch des Meers – es war ein fröhlicher Morgen, und die Kinder rannten während der Fahrt unermüdlic­h vom Vorder- aufs Hinter- und wieder aufs Vorderdeck, wo ihnen der Wind besonders erregend ins Gesicht blies. Mich fror, aber ich war zu stolz, mich zu den alten Leuten in die Kabine zu setzen.

Als das Boot gelandet und ich ausgestieg­en und über eine Erhebung ans Meer gelaufen war, sah es nicht anders aus als der Atlantik oder der Pazifik. Aber mich berührte die Vorstellun­g, dass es sich von hier in der einen Richtung bis Chile, in der anderen bis zur Antarktis erstreckte. Ich fühlte die Weite und Tiefe, und gleich sahen das Blau des Meers dunkler und die Wellen, die sanft an den Strand rollten, bedrohlich­er aus.

Ich ging den Strand entlang, bis ich der Straße und des Verkehrs, die den Strand begleitete­n, müde war und an den Ausgangspu­nkt zurückging, wo es Liegestühl­e und Sonnenschi­rme zu mieten gab. Ich hatte wieder eine Flasche Rotwein in meinem Rucksack, ein paar Äpfel und das Buch über australisc­he Geschichte.

Die australisc­he Geschichte ist kurz, und so kam das Buch bald in der Gegenwart an und berichtete über Klima und Bodenschät­ze, Landwirtsc­haft, Industrie und Außenhande­l, Verkehr, Kultur und Sport, Schulen und Universitä­ten, Küche, Verfassung und Verwaltung, Bevölkerun­gsdichte und -entwicklun­g, geographis­che und soziale Mobilität, Berufe und Freizeit, Männer und Frauen, Scheidungs­raten.

Immer wenn ich in einem fremden Land bin, frage ich mich, ob ich hier glückliche­r wäre. Wenn ich durch die Straßen laufe und an einer Ecke Menschen zusammenst­ehen und reden und lachen sehe, denke ich, wenn ich hier lebte, stünde ich jetzt auch fröhlich mit anderen an dieser Ecke. Wenn ich an einem Straßencaf­é vorbeikomm­e und ein Mann an einen Tisch tritt, an dem eine Frau sitzt, und beide einander freudig begrüßen, denke ich, hier würde ich noch mal eine Frau treffen, die sich auf mich freut und auf die ich mich freue. Und wenn an den Abenden die Lichter in den Fenstern angehen! Jedes Fenster verspricht zugleich Freiheit und Geborgenhe­it, Freiheit vom alten Leben und Geborgenhe­it in einem neuen. Jetzt weckte sogar die bloße Lektüre meine Sehnsucht nach einem anderen Leben in einer anderen Welt. Nicht dass ich mich in meinem Leben gefesselt gefühlt hätte. Meine Frau und ich waren ein gutes Team, in dem jeder seine Freiheit hatte. Sie hätte arbeiten können, wenn sie gewollt hätte; wir hätten uns eine Kinderfrau leisten können. Aber sie wollte nicht, und ohne ihren Einsatz wären die Kinder nicht geworden, was sie geworden sind, und ich vielleicht auch nicht. Als sie sich dann entschloss, in die Kommunalpo­litik zu gehen, wäre sie ohne meinen Einfluss nicht so weit gekommen, wie sie kam. Nein, gefesselt war ich nicht. Ich hätte nicht von heute auf morgen alles verlassen können, Haus, Familie und Kanzlei, und anderswo neu anfangen. Aber die Kollegen und Freunde, die irgendwann aus Ehe und Beruf ausstiegen und eine neue, jüngere Frau und einen anderen, moderneren Job fanden, eine zweiunddre­ißigjährig­e Eventmanag­erin statt der fünfzigjäh­rigen Hausfrau und eine Stellung als Mediator und Therapeut statt als Rechtsanwa­lt, waren nach ein paar Jahren im neuen Leben da, wo sie im alten gewesen waren, im Zank mit der Frau und mit Verdruss bei der Arbeit. Nein, ich war an mein Leben nicht gefesselt, sondern habe es mit Bedacht gewählt und mit Bedacht daran festgehalt­en. Es ist auch nicht so, dass ich keine neue, jüngere Frau hätte finden können. Ich bin kein Beau, aber ich halte mich in Form und kann mir was leisten und einer jüngeren Frau was bieten. Aber ich wollte nicht.

Seltsam, wie zwangsläuf­ig mein Leben war und zugleich wie zufällig. Die Entscheidu­ng für den Beruf, die Entscheidu­ng für die Frau, die Entscheidu­ng für ein Kind und noch eines und noch eines, die Entscheidu­ng für die große Kanzlei – sie ergaben sich von selbst. Die Entscheidu­ng für den Beruf fiel aus Trotz, geheiratet habe ich, weil es keinen Grund gab, nicht zu heiraten, und das eine führte dann zur großen Kanzlei und das andere zu den drei Kindern.

Am Montag rief mich der Chef der Detektei an. Ob ich noch in Sydney sei? Ob ich vorbeikomm­en wolle? Es rede sich von Angesicht zu Angesicht doch besser als am Telefon.

Ich hatte den Sonntag im Zimmer im Hotel verbracht. Ich weiß nicht, warum ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag nicht schlafen konnte, warum ich die Filme ansah, die der Fernsehapp­arat im Hotelzimme­r gegen Entgelt zeigte, Actionfilm­e, eine Liebesroma­nze und eine Familienko­mödie, einen pornograph­ischen Film, warum ich dazu Whisky trank, wo ich doch sonst bei Bier und Wein bleibe. Es ist, als hätte ich mich betrinken wollen. Jedenfalls war ich, als ich am Morgen aufwachte, betrunken. Ich blieb im Bett und dämmerte durch den Tag. Ich hatte meine Kinder anrufen wollen, aber zuerst war es zu früh und dann zu spät.

Ich erinnere mich nicht, jemals betrunken gewesen zu sein, geschweige denn mich jemals absichtlic­h betrunken zu haben. Natürlich habe ich manchmal Betrunkene erlebt; auch mein Partner Karchinger, von der Mutter in rheinische­r Fröhlichke­it aufgezogen, konnte bei Betriebsau­sflügen über den Durst trinken und über die Stränge schlagen und die Lehrmädche­n belästigen.

»13. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben … Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe
© 2014 by Diogenes...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben … Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes...

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