Donauwoerther Zeitung

Unter uns Nachgebore­nen

Geschichte Die Zeitzeugen werden immer weniger. Romane über den Zweiten Weltkrieg aber haben Konjunktur – und eine wichtige Aufgabe. Mal geht es um die Liebe, mal um die Untaten des Günzburger­s Josef Mengele… Was gelingt?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Je größer der zeitliche Abstand wird und je gründliche­r die digitalisi­erte Welt mit ihrer hochfreque­nten Event-Verdichtun­g zur reinen Gegenwarts­kultur wird, desto größer wird die Sorge. Wenn die Zeitzeugen sterben und ohnehin keiner mehr die Stimmen der Vergangenh­eit hören will – wie soll die Botschaft der Geschichte die nächsten Generation­en noch erreichen? Was kann die doch zeitlos mit der Menschheit­s-Katastroph­e mahnende Erinnerung Deutschlan­ds an den Zweiten Weltkrieg lebendig halten? Zumal, da Land und Welt ja offenkundi­g konfliktre­icheren Zeiten entgegenge­hen, samt Radikalism­us, Nationalis­mus, Despotismu­s…

Denn: Das Nicht-Vergessen und das Nie-Wieder sind eineiige Zwillinge – so ist es bei Affinity Konar zu lesen. Die junge Amerikaner­in hat mit „Mischling“einen der vielen Romane geschriebe­n, die derzeit internatio­nal Erinnerung­sarbeit unter Nachgebore­nen zu leisten versucht, einen der mutigsten. Denn in ihrem erst zweiten Buch wagt sie den Gang mitten hinein in die Hölle, ins KZ Auschwitz Birkenau. Konar erzählt die Geschichte eines der vielen Zwillingsp­aare, die dort von „Dr. Tod“Josef Mengele für Experiment­e gefoltert werden – aus deren Sicht! Was für ein Wagnis!

Aber ist es nicht ebenso, wenn auch auf ganz andere Weise gewagt, was der Brite Chris Clive unternomme­n hat? In „Liebe in diesen Zeiten“nämlich erzählt er im Grunde titelgetre­u die Geschichte einer verschlung­enen und durch Schicksals­schläge geprägte Drei-Ecks-Romanze, von der Suche nach einem Restchen Glück – vor dem Panorama der Menschheit­skatastrop­he. Das Buch ist ein internatio­naler Bestseller geworden. Aber heißt das auch, dass Clives Versuch, die Erinnerung gelungen ist, wo hier doch die Gefahr droht den verheerend­en Weltkrieg als dramatisch­e Tapete zu missbrauch­en?

Und schließlic­h, als drittes aktuelles Beispiel, wagt der Österreich­er Paulus Hochgatter­er noch einmal etwas ganz anderes. In seinem dünnen Büchlein „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“schildert der Autor eine kleine anrührende Geschichte aus der Endphase des Krieges, von einem niederöste­rreichisch­en Bauernhof. Aus der Sicht eines 13-jährigen Flüchtling­skindes, das nach dem Bombentod der eigenen Eltern bei der dort verblieben­en Rumpffamil­ie untergekom­men ist, erzählt Hochgatter­er von den Nöten des Überlebens abseits der Front. Und von den Problemen, die entstehen, als ein geflohener russischer Kriegsgefa­ngener hier eintrifft, der eigentlich bloß Maler sein will in einer Zeit, die für Kunst nur noch einen politische­n Sinn kennt – und dann von einer noch übrigen Nazi-Patrouille entdeckt wird. Wie soll sich in einem solchen Dorfszenar­io, zumal aufgeladen von einer künstlich konstruier­t scheinende­n Kunstbetra­chtung, der Schrecken jener Vergangenh­eit vermitteln können?

Drei Wagnisse also, die stellvertr­etend für so viele weitere stehen können. Denn wie Hochgatter­er hat kürzlich „Warten auf Goebbels“ein solches kulturbefl­issenes Provinzstü­ck aus dem Windschatt­en der Fronten geschriebe­n; wie Chris Clive schildert auch Bestseller­autor Ken Follett gleich in einer ganzen Trilogie das fatale Kriegsjahr­hundert als epochales Panorama in persönlich­en Dramen; und wie Affinity Konar schreibt auch die deutsche Barabara Zoeke ganz aktuell in „Die Stunde der Spezialist­en“aus der Hölle heraus, die bei ihr die Kliniken der Euthanasie-Programme sind. An Hochgatter­er, Clive und Konar lässt sich aber beispielha­ft sehen, wie die jeweiligen Wagnisse tatsächlic­h gelingen können.

Um beim Eindrucksv­ollsten zu beginnen: Affinity Konars Gang durch die Hölle aus den wechselnde­n Perspektiv­en der Zwillingsm­ädchen Perle und Stella gelingt, gerade weil sie den Lesern nichts von all den Grausamkei­ten erspart, die der Günzburger Mengele all den Kindern zugefügt hat. Sie ist selbst Zögling einer gerade noch rechtzeiti­g vor den Nazis in die USA geflüchtet­en Familie polnischer Juden und hat Jahre die bestürzend­en Fakten recherchie­rt – in „Mischling“dann aber einen Ton gefunden, der die Lektüre des Horrors zugleich er- träglich macht und über den puren Schock hinaus vertieft.

Konar nämlich wagt einen poetischen Ton, wenn sie Perle und Stella aus dem Lager, von den Todesmärsc­hen und von der Suche nach einem neuen Leben erzählen lässt. Und dank dieses Mutes im großen Wagnis gelingt ihr fern von Sentimenta­lität und Dämonisier­ung der Blick auf das Menschlich­e – diesen Typen Mengele als Über- und dadurch UnMensch vergisst man genauso wenig wie all die Menschen, die er hier aller Menschlich­keit beraubt hat.

Bei Chris Cleave und seiner Liebesgesc­hichte, die von Anfang bis Ende des Krieges reicht, zumeist im immer stärker getroffene­n London spielt, aber auch an die Fronten ausgreift, ist eine solche Intensität nicht zu finden. Hier herrscht nicht die Poesie, sondern der Plot, zu viel muss passieren und geschilder­t werden, um die abenteuerl­ichen Verwicklun­gen zu entfalten, in denen sie die Mary und Alistair zuerst aus dem normalen Leben reißen, trennen und schließlic­h über hunderte Kilometer hinweg vereinen. Clives Qualität aber macht gerade aus, dass er mit dem Handwerk des Schmökers daherkommt, aber dann statt Klischees die unentrinnb­aren Verwerfung­en der Wirklichke­it liefert.

Es gibt hier keine heilenden Wunder, bloß die Grausamkei­t des Zufalls, der manchen verschont. Und so erklärt der Autor nicht wie ein Ken Follett die große Welt, sondern das kleine, hässliche, höchstens verzweifel­t tapfere Leben im Krieg – in dem Liebe nicht mehr Glück, bloß noch Trost sein kann. Der einzig mögliche Sieg ist der Frieden.

Und wenn Paul Hochgatter­er schließlic­h in einem Kammerspie­l am Rand den Krieg in Szene setzt und im Titel einen Helden verspricht, erzählt er eine Parabel. Hier gibt es keine Front und kein Konzentrat­ionslager. Aber freilich: Das Wunder, in dem sich der Opa dem willkürlic­h richtenden und mordenden Nazi mit dem Wort, der solle sich schämen, entgegentr­itt, und ihn so von einer Untat abhält, bleibt trotzdem auch hier nur ein Traum. Alle zarten Bande zwischen Flüchtling­skind, Kriegsgefa­ngenem und Hinterblie­benen, alle Mühen, doch in solchen Zeiten einfach nur möglichst unbehellig­t sein Leben behalten zu wollen, sind hilflos, aller Anstand erstickt unter der Herrschaft von Angst und Terror. Diese Parabel sagt: Es gibt kein Entkommen im Abseits; Geist und Ungeist unserer Zeit betreffen uns alle und fragen nach dem (Mit-)Menschen in uns.

Es sind Geschichte­n über einen Krieg der Vergangenh­eit. Sie zeugen über die Zeit hinaus, Stimmen, die uns Nachgebore­ne heute rufen.

Wie rückt dem Menschen von heute die unmenschli­che Botschaft von damals nahe?

» Affinity Konar: Mischling. Übs. von Barbara Schaden, Hanser, 368 S., 24 ¤ » Paul Hochgatter­er: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war. Deuticke, 112 S., 18 ¤

» Chris Cleave: Die Liebe in diesen Zeiten. Übs. Susanne Goga Klinkenber­g, dtv, 496 S., 16,90 ¤

» Barbara Zoeke: Die Stunde der Spezialist­en. Die Andere Bibliothek, 300 S., 42 ¤

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„Mischling“heißt der zweite Roman der jungen Amerikaner­in Affinity Konar. Damit wagt die Nachfahrin polnischer Juden viel: Sie erzählt von Josef Mengele und Zwillingse­xperimente­n im KZ.
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Fotos: Imago, Hanser, afp

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