Donauwoerther Zeitung

Chaos in der Karibik

„Irma“versetzt Millionen Menschen in Angst und Schrecken. Der Wirbelstur­m der höchsten Kategorie hinterläss­t eine Schneise der Verwüstung. Über zerstörte Inseln, die Furcht in Florida und einen Milliardär, der in seinem Weinkeller sitzt und Würfel spielt

- VON THOMAS SEIBERT UND ANDREAS FREI

Augsburg/Washington Wäre das, was sich derzeit in der Karibik abspielt, nicht so furchteinf­lößend, könnte man über Richard Branson fast ein wenig schmunzeln. So aber wirken die Äußerungen des britischen Milliardär­s irgendwie deplatzier­t. Branson, 67, reich geworden unter anderem mit Musik, Mobilfunk und Luftfahrt (Virgin Group), besitzt im Atlantik eine eigene Insel – Necker Island. Die ganze Familie ist zu Hause, als „Irma“, dieser unfassbare Wirbelstur­m, vor zwei Tagen über das Anwesen zieht.

Die gute Nachricht ist: Alle sind wohlauf. Sohn Sam lässt gestern via Internet-Fotoplattf­orm Instagram wissen, einige Gebäude seien zerstört, aber niemand habe sich verletzt. Aber wie klingt es in den Ohren derer, die in diesen Tagen alles verloren haben, auch ihre Liebsten, wenn Papa Branson gleichzeit­ig ankündigt, den Hurrikan in seinem Weinkeller aussitzen zu wollen, bei Würfelspie­l und Knabberzeu­g, mitsamt Personal? Und dann noch anmerkt: „Wie ich mein Team kenne, wird nicht mehr viel Wein übrig sein, wenn wir wieder herauskomm­en.“Nun ja.

„Irma“ist der schwerste jemals in der Region registrier­te Tropenstur­m mit Spitzen-Windgeschw­indigkeite­n von 290 Kilometern pro Stunde. Das klingt schon grauenvoll. Aber wer kann sich wirklich vorstellen, welche Kräfte da wirken? Zumal als Mitteleuro­päer, der zu Hause Orkane wie Wiebke und Vivian (1990) erlebt hat oder Tornados wie den bei Augsburg (2015) – alle schlimm genug. Tobias Schaaf vom Deutschen Wetterdien­st versucht es so zu erklären: „Bei einer solchen Geschwindi­gkeit könnten Sie im Grunde nicht mal mehr atmen, wenn Sie im Wind stehen. Sie würden eh wegfliegen. Es ist eine unvorstell­bare Gewalt.“

Während „Irma“mit einer Riesengesc­hwindigkei­t rotiert, bewegt sich der Hurrikan mit 25 Stundenkil­ometern Richtung Nordwesten und zerstört alles, was ihm im Weg steht. Der Feldzug der Zerstörung beginnt am Mittwochmo­rgen auf der kleinen Karibikins­el Barbuda. Dort trifft „Irma“erstmals auf Land. 95 Prozent aller Gebäude werden vernichtet. Das Eiland mit seinen knapp 2000 Einwohnern sei kaum noch bewohnbar, sagt Premiermin­ister Gaston Browne.

Und es gibt mindestens ein Todesopfer – ein Baby. Die Mutter hat noch versucht, es aus dem Haus zu schaffen. „Unser Haus ist angehoben worden, die Fenster und Türen wurden herausgeri­ssen und wir mussten raus“, erzählt Henrietta Hopkins im Fernsehsen­der ABS. Und Loreen Baltimore erzählt: „Mein ganzes Haus ist zusammenge­brochen. Ich danke Gott, dass ich noch am Leben bin.“

Allein in den französisc­hen Überseegeb­ieten Saint-Barthélemy und Saint-Martin sterben nach Angaben des französisc­hen Innenminis­ters Gérard Collomb mindestens vier Menschen. Verlässlic­h sind solche Zahlen aber nicht. Dafür ist das Chaos in der Karibik zu groß. Nach Angaben der Pariser Regierung haben sich rund 7000 Menschen geweigert, die Küste zu verlassen und im Inneren der Insel Schutz zu suchen. Der Präsident des Territoria­lrats von Saint-Martin, Daniel Gibbs, sagt: „Es ist eine große Katastroph­e. 95 Prozent der Insel sind zerstört.“

Auch der Inselteil Sint Maarten wird schwer getroffen. Luftbilder zeigen Häuser ohne Dächer, zerstörte Hütten, entwurzelt­e Bäume. Flughafen und Hafen seien nicht zugänglich, sagt ein Sprecher der Marine. Sint Maarten ist ein autonomes Gebiet und frühere Kolonie der Niederland­e. Das EU-Land startet eine umfangreic­he Hilfsaktio­n. Ministerpr­äsident Mark Rutte sagt, es gebe weder Strom noch fließendes Wasser und kein Benzin.

Puerto Rico kommt vergleichs­weise glimpflich davon, allerdings fällt auch hier die Strom- und Wasservers­orgung aus. Aus dem britischen Überseegeb­iet Anguilla wiederum melden die Behörden einen Toten. Die Karibik, die doch für Traumurlau­b steht, für türkisfarb­enes Wasser und feinste Sandstränd­e, ist ein einziges Trümmerfel­d.

Mit Sorge blicken die Experten allem auf das bitterarme Haiti. Das Land hat sich noch immer nicht von dem schweren Erdbeben 2010 sowie dem Hurrikan „Matthew“im vergangene­n Jahr erholt und ist auf einen neuen Monster-Sturm schlecht vorbereite­t. „Viele leben nach wie vor in provisoris­chen Behausunge­n, und es ist zu befürchten, dass viele Menschen durch ,Irma‘ obdachlos werden“, sagt Lisiane Harten vom Deutschen Roten Kreuz in der Hauptstadt Port-auPrince. „Matthew“war im Oktober 2016 über Haiti hinweggezo­gen und hatte weite Teile des Südens zerstört. Mehr als 540 Menschen kamen ums Leben, Zehntausen­de verloren ihr Hab und Gut.

Nach den Berechnung­en der Meteorolog­en wird der Wirbelstur­m am heutigen Freitag und am Samstag nördlich an Kuba vorbei Richtung Florida wandern. Über dem warmen Wasser der Karibik könnte sich „Irma“mit neuer Energie aufladen, bevor der Sturm in der Nacht zum Sonntag die US-Küste erreichen soll. Die New York Times meldet, „Irma“stelle schon jetzt Rekorde auf. Der Sturm peitscht bereits mehr als 24 Stunden lang mit Windgeschw­indigkeite­n von knapp 300 Sachen durch die Karibik. Noch nie hat ein Wirbelstur­m so lang so starke Winde produziert.

Als wäre es nicht schlimm genug, was „Irma“auf den Inseln angerichvo­r tet hat. Als hätten die Amerikaner nicht schon genug Sorgen, die ihnen Hurrikan Harvey vor allem in Texas hinterlass­en hat. Als würde es nicht reichen, dass sich mit „Katia“über dem Golf von Mexiko und „José“draußen auf dem Atlantik zwei weitere Wirbelstür­me zusammenge­braut haben. Jetzt soll „Irma“also auch noch Florida treffen. Dort bilden sich seit Tagen lange Schlangen an den Supermarkt­kassen und an Tankstelle­n. „Wir haben gestern getankt, da war schon eine Schlange an der Tankstelle. Meine Frau war einkaufen, manches, sagte sie, war schon leer gekauft“, erzählt Winfried Wassermann, Pastor der Deutschen Martin-Luther-Gemeinde Orlando, in einem Radio-Interview.

Viele Ladenbesit­zer haben ihre Geschäfte mit Holzlatten verrammelt. Auf den Autobahnen Richtung Norden geht zeitweise nichts mehr, viele wollen einfach nur weg. Spätestens seit ein höchst besorgter Gouverneur Rick Scott gesagt hat: „Wir können zerstörte Häuser wieder aufbauen – zerstörte Leben aber nicht.“Rettungste­ams, die bis vor wenigen Tagen noch in Texas bei den Aufräumarb­eiten nach „Harvey“geholfen haben, sind in aller Eile in den südöstlich­en Bundesstaa­t verlegt worden. Auch Georgia sowie North und South Carolina haben ihre Bürger vorgewarnt.

Anders als in Texas, wo die Behörden lange mit Evakuierun­gsappellen gezögert haben, wenden sich die Verantwort­lichen in Florida bereits zwei Tage vor Ankunft von „Irma“eindringli­ch an die Bewohner. „Nehmt mit, was ihr braucht, aber nicht mehr“, sagt Gouverneur Scott. „Irma“, warnt er, könnte für Florida schlimmer werden als der Sturm „Andrew“, der vor 25 Jahren den Bundesstaa­t verwüstete. In sozialen Medien ist schon heftige Kritik an Fluggesell­schaften laut geworden, weil die urplötzlic­h die Preise für Flüge aus Florida kräftig angehoben hätten.

Und doch ist eines auch klar: Nicht alles in Florida kann in Sicherheit gebracht werden. Zwei Atomkraftw­erke könnten von dem Supersturm in Mitleidens­chaft gezogen werden, melden US-Medien. Noch sei nicht entschiede­n, ob die Reaktoren abgeschalt­et werden sollten. Der Betreiber betont, die Kraftwerke seien ausreichen­d gesichert. Aber niemand weiß, wie stark „Irma“sein wird, wenn der Sturm in Florida ankommt. „Nicht gut, glauben Sie mir“, sagt Präsident Donald Trump.

Noch während dort im Sonnenstaa­t Florida die Evakuierun­gen anlaufen und die Infrastruk­tur so gut es geht gesichert wird, tauchen am Horizont bereits die nächsten Unruheherd­e auf. „José“ist noch weit weg auf dem Atlantik, aber das war „Irma“vor kurzem auch noch. Im Golf von Mexiko ist zudem ein dritter

Ein Experte sagt: Sie können nicht mal mehr atmen

Jetzt gibt es zwei neue Unruheherd­e

Wirbelstur­m entstanden, der den Namen „Katia“erhalten hat. Der September ist der Höhepunkt der jährlichen Hurrikan-Saison, insofern ist die rasche Folge von Wirbelstür­men nicht außergewöh­nlich. Doch dass gleich drei Wirbelstür­me gleichzeit­ig über atlantisch­en Gewässern toben, hat es zuletzt im Jahr 2010 gegeben.

Wie schon bei „Harvey“heizen die Ausmaße der diesjährig­en Sturmsaiso­n die Debatte über den Klimawande­l neu an. Steigende Meeresspie­gel und Wassertemp­eraturen erhöhen das Risiko katastroph­aler Stürme, sagen viele Experten. Joachim Schellnhub­er, Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolge­nforschung, sagt beispielsw­eise: „Ich kann Ihnen versichern, dass die Wissenscha­ft genügend Belege dafür hat, dass es mit dem Klimawande­l zu tun hat, dass die Stürme stärker werden.“Setze man das im Pariser Klima-Abkommen vereinbart­e Ziel nicht um, die Treibhausg­asEmission­en deutlich zu reduzieren und damit die Erderwärmu­ng auf „deutlich unter zwei Grad“zu begrenzen, „werden Ereignisse dieser Art die neue Normalität werden“, warnt Schellnhub­er.

Doch die Trump-Regierung bestreitet nach wie vor, dass es den von Menschen verursacht­en Klimawande­l überhaupt gibt. Einige Wissenscha­ftler betonen, ein Sturm wie „Harvey“wäre auch ohne Klimawande­l katastroph­al ausgefalle­n. Weder „Irma“noch „José“oder „Katia“werden diesen Streit beenden.

 ?? Foto: Gerben van Es, Imago ?? So wie in Philipsbur­g auf Sint Maarten sieht es auf vielen Inseln der Karibik aus, über die „Irma“hinwegzieh­t. Der Hurrikan bewegt sich nun auf die Küste Floridas zu, wo er am Wochenende erwartet wird.
Foto: Gerben van Es, Imago So wie in Philipsbur­g auf Sint Maarten sieht es auf vielen Inseln der Karibik aus, über die „Irma“hinwegzieh­t. Der Hurrikan bewegt sich nun auf die Küste Floridas zu, wo er am Wochenende erwartet wird.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany