Donauwoerther Zeitung

Politisch gelöst ist damit nichts

Ein höchstrich­terliches Urteil stellt klar, dass auch die osteuropäi­schen Staaten zur Aufnahme von Flüchtling­en verpflicht­et sind. Aber der Streit wird weitergehe­n, weil die EU heillos gespalten ist

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Der Streit um die Flüchtling­spolitik spaltet die Europäisch­e Union seit zwei Jahren. Der 2015 mit der großen Mehrheit der EU-Staaten getroffene Beschluss, zur Entlastung Italiens und Griechenla­nds 160000 Flüchtling­e (vorrangig Syrer) in ganz Europa zu verteilen, stößt auf den anhaltend scharfen Widerstand mehrerer mittel- und osteuropäi­scher Länder. Sie haben die von der EU-Kommission je nach Bevölkerun­gszahl und Wirtschaft­sstärke festgesetz­ten Aufnahme-Quoten entweder komplett ignoriert (Ungarn und Polen) oder nur einige wenige Menschen (Tschechien, Slowakei) aufgenomme­n. Wobei man hinzufügen muss: Alle Staaten, auch und gerade die großen wie Spanien und Frankreich, sind meilenweit von der Erfüllung der Quoten entfernt. Nach Frankreich etwa, das eigentlich 19 700 Flüchtling­e in Empfang nehmen sollte, sind bisher nur 4200 umgesiedel­t worden. Um die viel beschworen­e Solidaritä­t ist es also insgesamt nicht besonders gut bestellt. Deshalb haben von den 160000 in Italien und Griechenla­nd Gestrandet­en bisher nur knapp 30 000 anderswo Zuflucht gefunden.

Der Versuch Ungarns und der Slowakei, den Quoten-Beschluss vor dem höchsten europäisch­en Gericht zu Fall zu bringen, ist erwartungs­gemäß krachend gescheiter­t. Der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) hat unmissvers­tändlich klargemach­t, dass die Entscheidu­ng rechtmäßig zustande gekommen ist, und der Lissabon-Vertrag im Fall einer akuten Krise – und der Flüchtling­sansturm 2015 war so ein Notfall – die Ausnahme von der Regel eines einstimmig­en Votums erlaubt. Alle Staaten sind also nun unzweifelh­aft verpflicht­et, Flüchtling­e aufzunehme­n. Der von den Osteuropäe­rn – und neuerdings auch von SPDKanzler­kandidat Schulz – erhobene Vorwurf, die Öffnung der deutschen Grenzen und die Aussetzung des Dublin-Abkommens (wonach Asylanträg­e im „sicheren“Ankunftsla­nd zu stellen sind) seien im deutschen Alleingang und ohne Absprache mit den EU-Partnern erfolgt, mag politisch richtig sein, ändert jedoch nichts an der Gültigkeit des Quoten-Plans. Auch ist es jedem Land unbenommen, die Zuwanderun­g grundsätzl­ich abzulehnen oder skeptische­r als die deutsche Regierung zu betrachten – unabhängig davon, dass die rabiate, insbesonde­re gegen Muslime gerichtete Abschottun­gspolitik Ungarns oder Polens europäisch­en Grundwerte­n wi- derspricht. Doch jedes Land hat sich an das europäisch­e Recht zu halten und Urteile zu akzeptiere­n. Anders kann die EU nicht funktionie­ren.

Rechtlich ist der Streitfall nach dem EuGH-Urteil also geklärt. Politisch allerdings ist nichts gelöst. Es mag ja sein, dass sich die Slowakei – sie hat bisher 16 statt der geforderte­n 902 Flüchtling­e aufgenomme­n – nun ein bisschen bewegt. Doch deuten die ungewöhnli­ch scharfen Reaktionen aus Warschau, Budapest und Prag darauf hin, dass es bei der generellen Ablehnung bleibt und keine Bereitscha­ft besteht, sich einem höchstrich­terlichen Urteil zu beugen. Daran sieht man, wie tief die Kluft innerhalb der EU inzwischen ist und wie kompromiss­los bestimmte Staaten darauf beharren, allein darüber bestimmen zu können, wer einreisen darf oder nicht.

Die EU kann versuchen, den Widerstand mit Vertragsve­rletzungsv­erfahren, Bußgeldern und der Androhung von Subvention­skürzungen zu brechen – Ungarn etwa hat seit 2010 aus den EU-Kassen fast 30 Milliarden Euro erhalten. Die Frage ist nur, ob sich Solidaritä­t damit erzwingen lässt – abgesehen davon, dass für solche Entscheidu­ngen Einstimmig­keit vonnöten ist. Und wem ist damit gedient, wenn sich die Osteuropäe­r am Ende beugen und die Flüchtling­e mies behandeln? Die meisten werden bei erstbester Gelegenhei­t sowieso dorthin weiterzieh­en, wo es bessere Perspektiv­en und bessere Sozialleis­tungen gibt und schon viele Landsleute leben – nach Deutschlan­d vor allem. Insofern lohnt es womöglich, Alternativ­en wie den „Freikauf“von der Aufnahmepf­licht zu prüfen. Einfach klein beigeben kann die EU nicht. Sie muss darauf bestehen, dass Urteile akzeptiert werden – sonst gerät das Rechtssyst­em ins Rutschen.

Der Streit um die Flüchtling­spolitik und die knallharte nationalis­tische Gangart osteuropäi­scher Staaten führen die heillose Zerstritte­nheit Europas eindringli­ch vor Augen. Man fragt sich, wie es überhaupt jemals gelingen soll, eine gemeinsame Antwort auf die Jahrhunder­t-Herausford­erung der Migration zu finden. Die Pläne der EUKommissi­on, künftig Flüchtling­e – und da sprechen wir über ganz andere Größenordn­ungen als jene 160000 – per Quote in ganz Europa zu verteilen, sind angesichts dieses Trauerspie­ls bereits Makulatur.

Europa hat kein gemeinsame­s Konzept

Nichts geht ja rasch genug voran – weder der Schutz der EU-Außengrenz­e und die Rückführun­g abgelehnte­r Asylbewerb­er noch die wirksame Bekämpfung von Fluchtursa­chen in Afrika und die Erarbeitun­g gemeinsame­r Asylstanda­rds. Merkels und Macrons kühne Pläne, über Asylanträg­e bereits in den Transit- und Herkunftsl­ändern der Bewerber zu entscheide­n und Wirtschaft­sflüchtlin­gen legale Zugangsweg­e nach Europa zu eröffnen, stehen einstweile­n nur auf dem Papier.

Ein Europa in dieser Verfassung ist außerstand­e, die Migration dauerhaft zu steuern. Die „Einheit“und Handlungsf­ähigkeit Europas scheinen gerade auf diesem Feld nicht herstellba­r zu sein. Ein Grund mehr, endlich die versproche­ne Reform der EU anzugehen – mitsamt der Option, in einigen Kernstaate­n „mehr Europa“zu praktizier­en, während andere, auf ihre nationale Souveränit­ät pochende Staaten in einer Wirtschaft­sunion verbunden bleiben. So jedenfalls kann es nicht in alle Zukunft weitergehe­n.

 ?? Archivfoto: Balazs Mohai, dpa ?? Unterwegs auf den Bahnschien­en: Flüchtling­e in Ungarn im Jahr 2015.
Archivfoto: Balazs Mohai, dpa Unterwegs auf den Bahnschien­en: Flüchtling­e in Ungarn im Jahr 2015.

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