Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (30)
Ich fror und schwamm zurück. Das Haus lag ruhig und dunkel. Am Fuß der Treppe hockte Kari; wir nickten uns zu, und ich lächelte ihn an, aber er lächelte nicht zurück. Auf dem Balkon standen noch Gläser und offener Wein, ich schenkte mir ein und setzte mich. Ich konnte am nächsten Tag von Rock Harbour die Kanzlei anrufen und einen Kollegen herausfinden lassen, wessen die Terroristin mit gefärbten Haaren, Sonnenbrille und gesenktem Kopf beschuldigt wurde. Aber vielleicht hatte Gundlach recht. Dann war, was immer Irene getan hatte, Teil einer vergangenen Welt, mit der unsere Welt nichts gemein hat.
Als ich im Bett lag, horchte ich auf das Rauschen der Wellen und Klirren der Kiesel. Es war schwach, ich konnte es kaum hören. Ich konnte auch den Atem des Hauses nicht hören. Es war eine eigentümliche Unruhe im Haus, als halte Irene Hände und Beine nicht still, als wälze Gundlach sich im Bett, als murmele Schwind im Schlaf und gehe
der Pilot im Zimmer rauchend auf und ab. Als zittere das Haus, nicht vom Wind oder einem Beben geschüttelt, sondern unter der Last der Beherbergung der unverträglichen Menschen. Ich lag ganz still.
ADritter Teil
m nächsten Morgen klopfte der Pilot leise an die Tür und streckte den Kopf ins Zimmer. Ob ich mitfliegen wolle? Schwind komme auch mit. Sie könnten mich bis Sydney mitnehmen oder in Rock Harbour absetzen. Nein? Er winkte und machte die Tür sanft wieder zu. Ich hörte die drei auf der Treppe des Hauses und auf der Treppe zum Strand; sie redeten nicht und traten behutsam auf. Sie stehlen sich davon, dachte ich, sagte mir aber gleich, dass das ein dummer Gedanke sei. Dann dröhnte der Motor, die Rotorblätter knatterten und zischten, der Hubschrauber hob ab, wurde leiser und wieder lauter, als mache er eine Kurve über Bucht und Haus, und flog davon. Er hatte die Vögel aufgescheucht; sie rauschten, flatterten, zwitscherten, krächzten aufgeregt.
Als Irene um zehn noch nicht aufgestanden war, lauschte ich an ihrer Tür, hörte nichts, klopfte, hörte wieder nichts und ging in ihr Zimmer. Es roch nicht nur nach Krankheit. Es stank nach Kot und Urin, trotz des offenen Fensters, ein dumpfer, strenger Geruch. Irene lag mit offenen Augen im Bett und sah mich beschämt und abweisend an.
„Geh. Ich stehe gleich auf. Ich bin nur etwas schwach.“
„Soll ich ein Bad einlaufen lassen? Oder willst du duschen?“
Sie weinte. „Es ist mir noch nie passiert. Ich wollte aufstehen und rübergehen, aber ich kam nicht hoch und blieb liegen und konnte es nicht halten.“
„Ich hole dich gleich.“
Ich ging ins Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne laufen, tat Badeöl ins Wasser und achtete auf die rechte Temperatur und das rechte Maß an Schaum. Ich wartete, dass die Wanne voll würde. Als Kind habe ich gerne gebadet; die Wanne wurde von einem Ofen mit Boiler gespeist, und ich schnippte Wasser gegen den heißen Boiler und hörte es zischen.
Seit Jahrzehnten dusche ich nur noch. Baden ist Zeitverschwendung. Aber Irene hatte Zeit, und es würde ihr guttun, nach der Dusche in der Wanne zu liegen, bis ich das Bett gerichtet hatte. Überhaupt gab es auf einmal viel Zeit.
Ich holte sie; sie legte den Arm um meine Schultern und ließ sich halb führen, halb tragen. Vor der Dusche zog ich sie aus, unter der Dusche wusch ich sie, während sie sich am Wasserhahn festhielt. Ich habe meine Kinder nicht gewindelt und gewickelt und wusste nicht, wie hartnäckig eingetrockneter Kot an der Haut haftet.
Als ich Irene gesäubert hatte, trug ich sie in die Wanne. Sie hielt während der ganzen Prozedur die Augen geschlossen und sagte kein Wort.
Ich sagte auch nichts. Ich konzentrierte mich darauf, sie sauberzukriegen und nicht nass zu werden. Ich wurde trotzdem nass.
Aber ich wollte mich nicht umziehen, solange ich nicht alles in Ordnung gebracht hatte. Ich weichte die Bettwäsche zuerst ein und steckte sie dann mit dem Schlafanzug in die Propangaswaschmaschine. Ich schleppte Irenes Matratze auf den Balkon, wusch sie ab und legte sie in die Sonne, brachte eine Matratze aus einem anderen Zimmer in ihr Zimmer und bezog ihr Bett. Ich machte Tee und Porridge und stellte ihr beides bereit. Dann trocknete ich sie ab und trug sie in ihr Bett; wieder sagte sie nichts.
„Ich komme gleich wieder, ich ziehe mich nur um.“
„Die anderen sind weg?“„Ja.“
Ich stand in der Tür und sah sie an, bis sie lächelte und sagte: „Schau nicht so ernst!“
„Was hast du?“
„Gleich. Zieh dich zuerst um.“Aber als ich wieder in ihr Zimmer kam, war sie eingeschlafen, und als sie aufwachte, wollte sie nicht über ihre Gesundheit reden. Sie trank den lauwarmen Tee und aß das lauwarme Porridge und wollte zu den beiden Höfen gefahren werden, wegen der Einkäufe und weil künftig Meredene vom ersten Hof dem Mann auf dem zweiten die Spritzen geben müsse.
Ich legte Irene einen Mantel um, band sie mit dem Gürtel am Sitz fest und fuhr sie im Jeep zu den Höfen. Wo sich die Spur verlor, wies sie mir den Weg, und ich versuchte, mir die Bachbetten und Tümpel und Baumgruppen und Felsen einzuprägen, an denen der Weg vorbeiführte. Das nächste Mal würde ich vielleicht alleine fahren müssen.
Bei beiden Höfen blieb Irene im Jeep sitzen. Sie ließ mich Meredene holen, erklärte ihr, sie müsse jetzt die Spritzen geben, auch wenn sie es lieber nicht täte, und trug ihr Einkäufe auf. „Wie wäre es mit…“, setzte ich an, und Irene wusste, was ich sagen wollte, und sagte: „Ja, ich brauche noch Windeln.“Auf dem anderen Hof nahm die alte Frau brummig, ohne Frage und ohne Dank, zur Kenntnis, dass Irene nicht mehr könne und dass statt ihrer künftig Meredene komme.
Irene sah ihr nach. „Ihrem Mann verdanke ich das Haus am Meer, und ich wollte es ihm vergelten, indem ich ihn bis zum Tod versorge. Jetzt überlebt er mich.“Sie spürte meinen fragenden Blick.
„Bauchspeicheldrüsenkrebs. Noch ein paar Wochen oder auch nur eine, genau kann man das nicht sagen.“
Irene wollte lieber auf dem Balkon liegen als in ihrem Zimmer. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, bis ich ein hinreichend leichtes Bettgestell fand, das ich auf den Balkon tragen konnte. Die Matratze, die ich gewaschen hatte, war trocken und roch nach Sonne.
„Du hättest mit den anderen gehen sollen“, sagte Irene, als sie lag. „Jetzt musst du bleiben bis zuletzt.“Sie lächelte.
„Wer hat die Diagnose gestellt?“„Die Ärzte im Sydney Cancer Centre.“
„Haben sie gesagt, dass man nichts mehr machen kann?“
Sie lachte.