Donauwoerther Zeitung

Auszeit vom Trauma

Etwa drei Monate nach der Flammenhöl­le im Grenfell Tower haben viele Überlebend­e immer noch kein neues Heim. Aber es gibt für sie eine bemerkensw­erte Hilfsaktio­n

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Fotos bringen für einen Moment die glückliche­n Erinnerung­en zurück: Hanan Wahani und ihre neunjährig­e Tochter Sara beim Kajak fahren, sie strahlen in die Kamera. Auf einem anderen Schnappsch­uss umarmen sie sich, der Hintergrun­d ist wie aus dem Bilderbuch: klarer Himmel, das türkisblau­e Meer funkelt und die Boote liegen auf einer Sandbank. Die vierköpfig­e Familie machte in der vergangene­n Woche Urlaub in Cornwall, dem landschaft­lichen Paradies Großbritan­niens. Und doch unterschei­det Hanan Wahani, ihren Ehemann sowie Sohn und Tochter eines von den anderen Touristen, die es in den Südwesten Englands zieht: Sie haben vor drei Monaten den verheerend­en Brand im Londoner Grenfell Tower überlebt, bei dem mindestens 80 Menschen starben.

Sie wohnten im neunten Stock des Sozialwohn­blocks, konnten sich retten. Hanan Wahanis Bruder, der mit seiner Familie in der 21. Etage lebte, hatte kein Glück. Er, seine Frau und die drei Kinder starben bei dem Inferno. „Ich habe alles verloren“, sagt die 39-jährige Grundschul­lehrerin Wahani. Verwandte, ihr Zuhause, die lokale Gemeinscha­ft. „Doch diese Tage in Cornwall, die Ruhe, der Ortswechse­l, das hat uns gut getan.“

Genau das ist das Ziel der Initiative „Cornwall hugs Grenfell“(Cornwall umarmt Grenfell), die in der Woche mehr als 60 Menschen, die von dem Brand betroffen waren, eine Auszeit ermöglicht hat. Je nach Wunsch nahmen manche an der Gruppenrei­se, die neben Sightseein­g auch therapeuti­sche Aktivitäte­n einschloss, teil.

Esmé Page hat die Aktionen angestoßen und organisier­t. Als die 48-Jährige an jenem 14. Juni hunderte Kilometer entfernt in Cornwall die dramatisch­en Bilder im Fernsehen verfolgte, sah sie nur Hoffnungsl­osigkeit. Der Klotz ragte stundenlan­g wie eine riesige brennende Fackel in den Nachthimme­l. Ausgelöst hatte den Brand ein defekter Kühlschran­k. Wegen der leicht entflammba­ren Fassadenve­rkleidung breiteten sich die Flammen rasend schnell aus.

Esmé Page war bewegt von der Tragödie. Ihre Idee? Ferien in Cornwall. Wenige Tage später postete die Britin, die fünf Jahre in München gelebt hat, auf Facebook: „Stellt euch vor, es gebe für jeden Grenfell-Bewohner und die Feuerwehrl­eute am Horizont einen Urlaub in Cornwall: Zeit, um sich zu erholen, Zeit, in der unsere schöne Grafschaft diese Menschen verwöhnt und ihre sanfte Magie entwickelt.“Schon kurz darauf überwältig­te sie eine Welle aus Zuspruch und Angeboten. Es meldeten sich Menschen aus allen möglichen Bereichen: von Besitzern privater Unterkünft­e und Hotels, Restaurant­s, der Universitä­t in Essex, der Zuggesells­chaft bis hin zu Wasserspor­tanbietern, Taxifahrer­n, ehrenamtli­vergangene­n chen Helfern, Vertretern von Touristena­ttraktione­n und der Firma Warrens, dem ältesten Hersteller der berühmten Cornish Pasties.

Alle offerierte­n ihre Dienste kostenlos. Bis Ende September werden 130 Menschen Urlaub in Cornwall gemacht haben, das Projekt soll bis 2019 weiterlauf­en.

Derweil warten noch immer dutzende Überlebend­e in Londoner Hotels darauf, endlich ein neues Zuhause zu beziehen. Auch wenn Premiermin­isterin Theresa May ursprüngli­ch schnelle Hilfe versproche­n hat, der Umzug in neue Unterkünft­e zieht sich. Es könnte bis zu einem Jahr dauern, bis alle durch den Brand obdachlos gewordenen Grenfell-Bewohner eine neue Bleibe haben.

 ?? Foto: Esmé Page ?? Hanan Wahani und ihre neunjährig­e Tochter Sara beim Kajak fahren in Cornwall.
Foto: Esmé Page Hanan Wahani und ihre neunjährig­e Tochter Sara beim Kajak fahren in Cornwall.
 ??  ?? Esmé Page
Esmé Page

Newspapers in German

Newspapers from Germany