Donauwoerther Zeitung

Wie gut kennen wir uns?

Wie Angela Merkel tickt, das meinen die meisten Deutschen zu wissen. Aber Martin Schulz? Klar, er war Buchhändle­r, Europapoli­tiker, dann die große SPD-Hoffnung. Über einen Kandidaten, der nah an den Menschen sein will und sich doch schwertut, Vertrauen zu

- VON BERNHARD JUNGINGER

Marburg/Berlin „Du kennst mich viel zu wenig...“Die WahlkampfH­ymne von Martin Schulz beginnt ausgerechn­et mit dieser Feststellu­ng. Händeschüt­telnd bahnt sich der bärtige SPD-Kanzlerkan­didat seinen Weg durch die Menschenme­nge auf dem mittelalte­rlichen Marktplatz von Marburg. Wie beim Einmarsch eines Boxers dröhnt dazu das Lied. „Wie sehr wir leuchten“, heißt das Stück des Pop-Duos Gloria. Das hat gut gepasst, als sie es im März beim SPD-Parteitag spielten, damals, als Schulz mit sagenhafte­n 100 Prozent zum Vorsitzend­en gewählt und als Kanzlerkan­didat frenetisch gefeiert wurde. Das mit dem Leuchten, aber eben auch das mit dem Zu-wenig-Kennen.

Nichts hat der SPD-Chef seither unversucht gelassen, damit die Deutschen sich ein besseres Bild von ihm machen können. In diesem Punkt hat Martin Schulz einen riesigen Rückstand auf Angela Merkel aufzuholen. Denn der Satz „Sie kennen mich“ist das Erfolgsrez­ept der Bundeskanz­lerin. Ein hochrangig­er SPD-Stratege glaubt, dass die Zeit seit der Nominierun­g viel zu kurz war, um die nötige Vertrauthe­it zwischen Schulz und den Deutschen herzustell­en. Jetzt, im Endspurt seines Wahlkampfs, ist der SPD-Chef immer noch dabei, sich vorzustell­en. Und versucht Nähe zu schaffen – indem er zeigt, dass er seinerseit­s ganz viele Menschen kennt. Ganz normale Leute, die er im Alltag ständig trifft.

Im rheinische­n Singsang erzählt er von der armen alten Frau, die 120 Euro Wohngeld bekommen würde, wenn ihre Rente nicht um lächerlich­e fünf Euro zu hoch wäre. Von dem Studenten, der mehr Zeit mit der Wohnungssu­che verbringt als mit dem Studieren. Schulz berichtet von den Handwerker­n, die er gerade im Haus hat, die alle Diesel fahren und jetzt Fahrverbot­e und Wertverlus­t fürchten. Vom Patienten, der schon viel zu lang im Wartezimme­r sitzt und sich ärgert, dass ein anderer sofort drankommt, nur weil der privat versichert ist.

Kleine Geschichte­n von „kleinen Leuten“– Schulz baut sie immer wieder ein. Sie sollen zeigen, wie ungerecht es in Deutschlan­d doch zugeht. Schulz’ Vorstellun­gen einer modernen sozialdemo­kratischen Politik bekommen so ein Gesicht – seines, mit Bart und Brille. Schulz gibt den hemdsärmel­igen Macher, der entschiede­n vorgehen würde gegen Wohnungsno­t, Zweiklasse­nmedizin oder schummelnd­e Autokonzer­ne. Das kommt gut an in der hessischen Studentens­tadt. Zumal der 61-Jährige dort eine Art Heimspiel die Gegend ist SPD-Hochburg. Doch selbst in der Wolle gefärbte Sozialdemo­kraten räumen ein, dass sie mit dem Namen Schulz noch gegen Ende vergangene­n Jahres nicht viel anzufangen wussten. Ein langjährig­er SPD-Kommunalpo­litiker aus einer Umlandgeme­inde sagt: „Das war einfach dieser Europapoli­tiker mit dem Bart. Was das für ein Mensch ist, wofür der steht, da hatte ich keine Ahnung.“Wie aber kann es sein, dass der weitgehend Unbekannte nach seiner Nominierun­g einen heute fast bizarr anmutenden Sturm der Begeisteru­ng auslöste? Der Mittsiebzi­ger mit Schiebermü­tze erklärt sich das so: „Die Genossen waren einfach froh, dass nicht der Gabriel antritt.“

Als Schulz Ende Januar vom Parteivors­tand zum Kanzlerkan­didaten gekürt wird, steckt die SPD in einer existenzbe­drohenden Krise. Zwar kann sie in der Großen Koalition mit der Union durchaus Erfolge vorweisen – den Mindestloh­n etwa oder die abschlagsf­reie Rente mit 63. Doch die Lorbeeren trägt die Kanzlerin davon. Die SPD trifft der Fluch des Juniorpart­ners, der am Ende in der Wählerguns­t meist verliert, mit aller Härte. Laut Umfragen wollen ihr zeitweise nicht einmal 20 Prozent Wähler ihre Stimme geben. Und alle Entscheidu­ngen, für die die Kanzlerin kritisiert wird, etwa in der Flüchtling­skrise, hat die SPD voll mitgetrage­n.

Sigmar Gabriel, der Parteichef, ist selbst in den eigenen Reihen so unbeliebt, dass keiner ihm auch nur den Hauch einer Chance gegen Merkel gibt. Doch dann trifft er die Entscheidu­ng, die in der SPD damals als genialer Schachzug gefeiert und heute hinter vorgehalte­ner Hand immer öfter als ein Sich-aus-derVerantw­ortung-Stehlen kritisiert wird. Gabriel verzichtet auf die Kandidatur und präsentier­t Martin Schulz. Den Mann, der von außen kommt, der Teil der SPD ist, aber eben nicht der Großen Koalition. Der keine Rücksicht zu nehmen braucht – eigentlich.

In welchem Maß die SPD anfangs ihren neuen Vorsitzend­en feiert, sagen Schulz-Vertraute, ist ihm selbst unheimlich. Wo immer er auftritt, jubeln begeistert­e Genossen, von der „Lichtgesta­lt“, gar vom „Messias“, ist die Rede. Ganz offen träumt die SPD im Frühjahr davon, im „Schulz-Zug“direkt ins Kanzleramt zu fahren. Zur Euphorie trägt bei, dass der Hoffnungst­räger so anders erscheint als die meisten Spithat, zenpolitik­er. Sein Lebenslauf ist ungewöhnli­ch, weist Brüche und Niederlage­n auf. Der Sohn eines Polizeibea­mten wächst in Würselen auf, einer Kleinstadt in NordrheinW­estfalen. Das katholisch­e Gymnasium verlässt er ohne Abitur, weil er in Mathe schwächelt. Wie viele Jugendlich­e will er Fußballpro­fi werden. Das große Ziel scheint in greifbarer Nähe, als er als Mannschaft­skapitän von Rhenania Würselen westdeutsc­her Vize-Jugendmeis­ter wird. Doch ein kaputtes Knie macht ihn zum Sportinval­iden und wirft ihn völlig aus der Bahn. Mit 24 Jahren ist Schulz Alkoholike­r, schafft es aber, die Sucht zu besiegen. Er wird Buchhändle­r.

Seine Mutter hatte den örtlichen CDU-Verband gegründet – es ist also wohl auch Rebellion gegen das Elternhaus, die dazu führt, dass Martin Schulz wie seine vier Geschwiste­r bei der SPD landet. Er bewundert Willy Brandt, ist bewegt von dessen Kniefall in Warschau. Im Hinterzimm­er seiner Buchhandlu­ng heckt er mit seinen Juso-Freunden Strategien aus. Und wird mit gerade einmal 31 Jahren Bürgermeis­ter von Würselen. Gut 37 000 Einwohner hat die Stadt, die bei Aachen liegt, nahe der holländisc­hen und belgider schen Grenze. Von dort aus kann Schulz bequem nach Brüssel pendeln, seine Frau Inge und die beiden Kinder, die heute längst erwachsen sind, regelmäßig sehen, als er 1994, mit 38 Jahren, ins Europaparl­ament gewählt wird.

Mit Leidenscha­ft, Ehrgeiz und mitreißend­en Reden schafft er den Aufstieg zum Vorsitzend­en der Sozialisti­schen Fraktion und 2012 sogar zum Präsidente­n des Europaparl­aments. Schulz gilt als Vertreter des rechten Flügels der SPD. Vor den Konservati­ven im Parlament hat er wenig Berührungs­ängste. Zu Jean-Claude Juncker, dem Präsidente­n der Europäisch­en Kommission, hat Schulz einen guten Draht – ebenso wie zur deutschen Kanzlerin. Nicht wenige glauben, dass er mit Attacken auf Merkel geizt, etwa im zahmen Fernsehdue­ll, weil er sich schon jetzt als Koalitions­partner in Position bringen will.

Im Wahlkampf spielt Schulz seine lange Erfahrung auf höchster europapoli­tischer Ebene eher herunter. Brüssel, das weiß auch er, ist für viele Menschen ein Reizwort, das nach zu viel Bürokratie und Umverteilu­ng klingt. Umso öfter betont er seine einfache Herkunft, beschwört geradezu seine Bodenständ­igkeit. Auch in Marburg erfahren die Zuhörer, dass seine Brille ein Kassengest­ell ist und seine Anzüge von der Stange sind. Im selben Atemzug geißelt er „selbst ernannte Eliten in den Medien“, die ihm die Aura eines Sparkassen­angestellt­en oder den Charme eines Zugschaffn­ers bescheinig­en. „Was ist an einem Zugschaffn­er schlecht, was an einem Sparkassen­angestellt­en? Das sind Leute, die Respekt verdienen“, wettert er. Der Spott gegen ihn, den Mann ohne Abitur, sei Ausdruck einer „tief sitzenden Verachtung gegenüber normalen Menschen“. Als Schulz „Respekt für alle Menschen“fordert, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Nachnamen, bekommt er an diesem Spätnachmi­ttag den längsten Applaus.

Ein Mitglied aus seinem Wahlkampft­eam berichtet, dass sie im Willy-Brandt-Haus keine befriedige­nde Erklärung dafür haben, warum der Kanzlerkan­didat bei Auftritten im ganzen Land viel Zuspruch erntet und in den Umfragen seinen riesigen Rückstand auf Merkel doch nicht verringern kann. Dass die Euphorie der verrückten Anfangstag­e, als die SPD zeitweise auf Augenhöhe mit der Union schien, verpufft ist – klar, das habe mit den drei Niederlage­n der SPD bei Landtagswa­hlen zu tun. Für die könne Schulz ja wenig, aber als Vorsitzend­er habe er eben den Kopf hinhalten müssen. Gerade die Wahlschlap­pe

Er erzählt von der Frau, die kein Wohngeld bekommt

Manche sagen, er hat den Charme eines Schaffners

in seiner nordrhein-westfälisc­hen Heimat habe ihn sehr geschmerzt.

Die Deutschen kennen seither vor allem Schulz, den Verlierer. Der einer weit in Führung liegenden Gegnerin hinterherh­echelt. Der im Wochentakt seine Vorschläge präsentier­t, wie er Deutschlan­d gerechter machen will. Damit aber kaum durchdring­t – vielleicht, weil es dem Land so gut geht wie seit langem nicht. Der Plan, die Agenda-Reformen des letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zum Teil zurückzune­hmen, geht dem linken Lager in seiner Partei nicht weit genug. Länger Arbeitslos­engeld sollen nur Ältere bekommen, wenn sie an Qualifizie­rungsmaßna­hmen teilnehmen. Ob Schulz die Einkommens­lücke zwischen Frauen und Männern schließen will oder ein neues Rentenkonz­ept vorstellt – zum Wahlkampfs­chlager wird keines der Themen, die er setzt. Obwohl er beteuert, wie gut er die Leute kennt, mit all ihren Sorgen. Von der Frage aber, ob die Leute ihn schon gut und lang genug kennen, wird es abhängen, ob sie ihn in wenigen Tagen zum Bundeskanz­ler wählen.

Als in Marburg der Schlussapp­laus verebbt, hat sich der Senior mit der Schiebermü­tze sein Bild vom SPD-Kandidaten gemacht. „Der könnte schon Kanzler“, sagt er. „Aber die Merkel kennen die Leute halt schon seit zwölf Jahren.“

 ?? Foto: Florian Gärtner, imago ?? Kann er Kanzler? Martin Schulz tut sich schwer, Themen zu setzen. Und viele Leute haben das Gefühl, ihn nicht zu kennen.
Foto: Florian Gärtner, imago Kann er Kanzler? Martin Schulz tut sich schwer, Themen zu setzen. Und viele Leute haben das Gefühl, ihn nicht zu kennen.

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