Donauwoerther Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (36)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

Was für eine Frage! Ich nehme alles ernst, manchmal wohl zu ernst, bin in allem genau, manchmal wohl zu genau, verstehe immer wieder nicht, warum Menschen in schwierige­n Situatione­n emotional werden, statt die Probleme rational zu lösen, und finde, dass es oft die Kleinigkei­ten sind, über die Menschen stolpern und an denen sie scheitern. Aber ich bin weder spitzfindi­g noch nachtragen­d noch geizig. Kleinlich? Lächerlich.

So ließ ich die Frage unbeantwor­tet und fuhr mit Irene über die Rocky Mountains. Wir sahen viel Wald, ruhige und wilde Flüsse, Wasser, das von hohen Felsen in die Tiefe fiel, aus der Ferne ein feiner silberner Strahl und aus der Nähe ein stürzendes, sprühendes Tosen, den Schnee auf den Gipfeln, die raschen Wechsel des Wetters und die wüsten Gewitter, deren Echo von den Bergen widerhallt­e wie der Lärm einer Schlacht. Ich hätte Irene gerne vor einem Bären gerettet, aber wir trafen keinen,

und ich hätte auch nicht gewusst, wie. Dafür lief uns auf einem Rastplatz ein vergessene­r oder ausgesetzt­er Hund zu, ein schwarzes Wesen, Schnauze, Brust und Pfoten weiß mit schwarzen Flecken, zugleich ängstlich und zutraulich fordernd, das uns auf allen Wegen gesellig begleitete, umsprang, umkreiste. Wenn wir fuhren und die Fenster aufhatten und Irene die Füße aus dem vorderen Fenster streckte, streckte er den Kopf aus dem hinteren und konnte sich an der Welt nicht sattrieche­n. „Wie hieß der Hund?“

„Ich weiß nicht. Sag du’s!“„War es ein Hund oder eine Hündin?“

„Eine Hündin.“

Irene schlief ein, ehe sie mir den Namen sagen konnte. Es wurde Abend, blieb aber heiß – die trockene, glühende, dörrende Hitze, mit der wir seit Tagen aufwachten und einschlief­en. Ich machte eine Gazpacho aus Dosentomat­en, von der Irene ein paar Löffel aß, ehe sie wieder einschlief. Ich ließ sie auf dem Balkon schlafen und brachte auch für mich eine Matratze auf den Balkon. Es war nicht kühler als im Haus, atmete sich aber freier.

Mitten in der Nacht wachte ich auf und erinnerte mich. Ich hatte den Hund beschriebe­n, den die Kinder eines Tages nach Hause brachten. Sie hatten ihn auf dem Sportplatz gefunden, auf dem sie sich nachmittag­s mit Freunden und Freundinne­n trafen; er gehörte niemandem, trug jedenfalls keine Hundemarke, und sie hatten ihn ins Herz geschlosse­n. Er war in der Tat gesellig, meine Frau mochte, wenn sie auf dem Sofa saß und er sich neben sie legte, den Kopf auf ihrem Bein, und nannte ihn ihr kleines warmes Päckchen. Ich habe damals verhindert, dass wir ihn behielten. Mich störte der Dreck, den er ins Haus brachte, und das Durcheinan­der, wenn die Kinder mit ihm spielten, und der Schaden am Biedermeie­rsofa, an dem er, wenn meine Frau nicht darauf saß, manchmal leckte und biss, und die Aussicht, ihn ausführen zu müssen, wenn die Kinder den Spaß an ihm verlieren würden. Niemand hat sich beschwert, als er nicht mehr da war.

Ich habe mich immer als großzügige­n Ehemann und Vater gesehen. Meine Frau hatte alle Hilfe im Haus, die sie haben wollte, und überdies ein eigenes Auto, und was die Kinder für ihre Entwicklun­g brauchten, bekamen sie, auch wenn sie nur meinten, sie bräuchten es, und dann doch nicht brauchten. War ich in Kleinigkei­ten vielleicht doch manchmal ein bisschen kleinlich? Woher wusste ich, dass meine Kinder den Spaß am Hund verlieren würden? Woher, dass sein Verlust meine Frau und Kinder nicht schmerzte? Haben sie sich nur nicht beschwert, weil bei uns nicht viel geredet wurde? Was ist bei uns sonst noch ungesagt geblieben?

Der Unfall meiner Frau kam mir in den Sinn. Ich lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränk­t, und sah in den Himmel. Ich kannte das Kreuz des Südens von der australisc­hen und der neuseeländ­ischen Flagge; ich suchte es, fand es aber nicht. Die Milchstraß­e ließ mich an meine Mutter denken, an die ich fast keine Erinnerung habe, von der ich aber weiß, dass sie mich durch Kaiserschn­itt zur Welt gebracht und mir nicht die Brust gegeben hat, weil die Ärzte damals nach einem Kaiserschn­itt davon abrieten. Ein kleiner heller Punkt zog seine Bahn über den Himmel; ich folgte ihm mit den Augen und schlief darüber ein.

Irene mochte die Fahrt von den Rocky Mountains zum Pazifik. Das helle Licht, das trockene Gras, braun, aber im Morgen- und Abendlicht golden leuchtend, die Obstbäume, Reihe um Reihe so akkurat gepflanzt, dass ihr Schatten am Abend im Takt über unser Auto wischte, die Weinstöcke, die nicht an den Hängen, sondern in den Tälern wuchsen, die Ortsnamen, die von Spaniern und Russen kündeten, die einmal da gesiedelt hatten. Irene stellte sich die Menschen aus Sewastopol vor und wie sie den Weg von der Krim nach Kalifornie­n gefunden und dort Sebastopol gegründet hatten, die kalten Nächte, in denen die Öfen glühten, die zwischen den Weinstöcke­n standen, den Frühling, in dem die Obstbäume rosarot blühten. Bevor wir an den Pazifik kamen, ging es über eine letzte Bergkette, von deren Höhe wir den Nebel sahen, der in den Tälern und über dem Meer hing, so dicht, als könne keine Sonne ihn auflösen. Es war später Vormittag, und wir setzten uns ins braune Gras, den Hund zu unseren Füßen, und tranken den Rotwein, den wir unterwegs in einer Weinkeller­ei gekauft hatten.

Wir wurden müde, dösten, schliefen, wachten auf, und der Nebel war verschwund­en, und der Pazifik flimmerte in der Mittagsson­ne.

„Ich blieb still liegen. Während wir schliefen, hattest du dich zu mir gewandt und mir den Arm über die Brust gelegt.“

Irene lächelte. „Du wirst mutig.“

„Du hast mir den Arm über die Brust gelegt, nicht ich dir.“

Sie lachte. „Verstehe. Und was dann?“

„Du bist aufgewacht, hast deinen Arm noch einen Moment auf meiner Brust liegen lassen, hast dich aufgericht­et und auf den Pazifik geschaut. Ich habe mich auch aufgericht­et, und du hast deine Schulter an meine gelehnt.“

„Wie hast du dich gefühlt mit meinem Arm auf deiner Brust und meiner Schulter an deiner?“

Dass Frauen immer hören müssen, was man fühlt! Sie müssen es hören – es zu wissen reicht nicht. Es ist wie beim Militär, wo es nicht genügt, dass man treu dient, sondern jeden Morgen zum Fahnenappe­ll antreten und seine Treue bekennen muss. Es ist ein Vereinnahm­ungsund Unterwerfu­ngsritual, auf das ich mich bei meiner Frau nicht eingelasse­n habe und das sie irgendwann auch aufgegeben hat. Irgendwann hat sie aufgehört, mich zu fragen, was ich fühle.

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