Donauwoerther Zeitung

Theodor Storm: Der Schimmelre­iter (29)

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Trin’ Jans!“kam eine tiefe Stimme von der Küchentür, und die Alte zuckte leicht zusammen. Es war der Deichgraf Hauke Haien, der dort am Ständer lehnte. „Was redet Sie dem Kinde vor? Hab ich Ihr nicht geboten, Ihre Mären für sich zu behalten oder sie den Gäns’ und Hühnern zu erzählen?“

Die Alte sah ihn mit einem bösen Blick an und schob die Kleine von sich fort. „Das sind keine Mären“, murmelte sie in sich hinein, „das hat mein Großohm mir erzählt.“

„Ihr Großohm, Trin’? Sie wollte es ja eben selbst erlebt haben.“

„Das ist egal“, sagte die Alte; „aber Ihr glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!“Dann rückte sie näher an den Herd und streckte die Hände über die Flammen des Feuerlochs.

Der Deichgraf warf einen Blick gegen das Fenster; draußen dämmerte es noch kaum. „Komm, Wienke!“sagte er und zog sein schwachsin­niges Kind zu sich heran; „komm mit mir, ich will dir draußen vom Deich aus etwas zeigen! Nur müssen wir zu Fuß gehen; der Schimmel ist beim Schmied.“Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals und Schultern; und bald danach ging der Vater mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordwest hinauf, Jeverssand vorbei, bis wo die Watten breit, fast unübersehb­ar wurden.

Bald hatte er sie getragen, bald ging sie an seiner Hand; die Dämmerung wuchs allmählich; in der Ferne verschwand alles im Dunst und Duft. Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten die unsichtbar schwellend­en Wattströme das Eis zerrissen, und, wie Hauke Haien es in seiner Jugend einst gesehen hatte, aus den Spalten stiegen wie damals die rauchenden Nebel, und daran entlang waren wiederum die unheimlich­en närrischen Gestalten und hüpften gegeneinan­der und dienerten und dehnten sich plötzlich schreckhaf­t in die Breite.

Das Kind klammerte sich angstvoll an seinen Vater und deckte dessen Hand über sein Gesichtlei­n. „Die Seeteufel!“raunte es zitternd zwischen seine Finger; „die Seeteufel!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Wienke, weder Wasserweib­er noch Seeteufel; so etwas gibt es nicht; wer hat dir davon gesagt?“

Sie sah mit stumpfem Blicke zu ihm herauf, aber sie antwortete nicht. Er strich ihr zärtlich über die Wangen. „Sieh nur wieder hin!“sagte er, „das sind nur arme hungrige Vögel! Sieh nur, wie jetzt der große seine Flügel breitet, die holen sich die Fische, die in die rauchenden Spalten kommen.“„Fische“, wiederholt­e Wienke. „Ja, Kind, das alles ist lebig, so wie wir; es gibt nichts anderes; aber der liebe Gott ist überall!“

Klein Wienke hatte ihre Augen fest auf den Boden gerichtet und hielt den Atem an; es war, als sähe sie erschrocke­n in einen Abgrund. Es war vielleicht nur so; der Vater blickte lange auf sie hin, er bückte sich und sah in ihr Gesichtlei­n; aber keine Regung der verschloss­enen Seele wurde darin kund. Er hob sie auf den Arm und steckte ihre verklommen­en Händchen in einen seiner dicken Wollhandsc­huhe. „So, mein Wienke“– und das Kind vernahm wohl nicht den Ton von heftiger Innigkeit in seinen Worten –, „so, wärm dich bei mir! Du bist doch mein Kind, unser einziges. Du hast uns lieb…!“Die Stimme brach dem Manne; aber die Kleine drückte zärtlich ihr Köpfchen in seinen rauhen Bart.

So gingen sie friedlich heimwärts. Nach Neujahr war wieder einmal die Sorge in das Haus getreten; ein Marschfieb­er hatte den Deichgrafe­n ergriffen; auch mit ihm ging es nah am Rand der Grube her, und als er unter Frau Elkes Pfleg und Sorge wieder erstanden war, schien er kaum derselbe Mann. Die Mattigkeit des Körpers lag auch auf seinem Geiste, und Elke sah mit Besorgnis, wie er allzeit leicht zufrieden war. Dennoch, gegen Ende des März, drängte es ihn, seinen Schimmel zu besteigen und zum ersten Male wieder auf seinem Deich entlangzur­eiten; es war an einem Nachmittag­e, und die Sonne, die zuvor geschienen hatte, lag längst schon wieder hinter trübem Duft.

Im Winter hatte es ein paarmal Hochwasser gegeben; aber es war nicht von Belang gewesen; nur drüben am andern Ufer war auf einer Hallig eine Herde Schafe ertrunken und ein Stück vom Vorland abgerissen worden; hier an dieser Seite und am neuen Kooge war ein nennenswer­ter Schaden nicht geschehen. Aber in der letzten Nacht hatte ein stärkerer Sturm getobt, jetzt mußte der Deichgraf selbst hinaus und alles mit eigenem Aug besichtige­n. Schon war er unten von der Südostecke aus auf dem neuen Deich herumgerit­ten, und es war alles wohl erhalten; als er aber an die Nordosteck­e gekommen war, dort, wo der neue Deich auf den alten stößt, war zwar der erstere unversehrt, aber wo früher der Priel den alten erreicht hatte und an ihm entlanggef­lossen war, sah er in großer Breite die Grasnarbe zerstört und fortgeriss­en und in dem Körper des Deiches eine von der Flut gewühlte Höhlung, durch welche überdies ein Gewirr von Mäusegänge­n bloßgelegt war. Hauke stieg vom Pferde und besichtigt­e den Schaden in der Nähe: das Mäuseunhei­l schien unverkennb­ar noch unsichtbar weiter fortzulauf­en.

Er erschrak heftig; gegen alles dieses hätte schon beim Bau des neuen Deiches Obacht genommen werden müssen; da es damals übersehen worden, so mußte es jetzt geschehen!

Das Vieh war noch nicht auf den Fennen, das Gras war ungewohnt zurückgebl­ieben; wohin er blickte, es sah ihn leer und öde an. Er bestieg wieder sein Pferd und ritt am Ufer hin und her: es war Ebbe, und er gewahrte wohl, wie der Strom von außen her sich wieder ein neues Bett im Schlick gewühlt hatte und jetzt von Nordwesten auf den alten Deich gestoßen war; der neue aber, soweit es ihn traf, hatte mit seinem sanfteren Profile dem Anprall widerstehe­n können.

Ein Haufen neuer Plag und Arbeit erhob sich vor der Seele des Deichgrafe­n; nicht nur der alte Deich mußte hier verstärkt, auch dessen Profil dem des neuen angenähert werden; vor allem aber mußte der als gefährlich wieder aufgetrete­ne Priel durch neuzulegen­de Dämme oder Lahnungen abgeleitet werden.

Noch einmal ritt er auf dem neuen Deich bis an die äußerste Nordwestec­ke, dann wieder rückwärts, die Augen unablässig auf das neugewühlt­e Bett des Priel heftend, der ihm zur Seite sich deutlich genug in dem bloßgelegt­en Schlickgru­nd abzeichnet­e.

Der Schimmel drängte vorwärts und schnob und schlug mit den Vorderhufe­n; aber der Reiter drückte ihn zurück, er wollte langsam reiten, er wollte auch die innere Unruhe bändigen, die immer wilder in ihm aufgor.

Wenn eine Sturmflut wiederkäme – eine wie 1655 dagewesen, wo Gut und Menschen ungezählt verschlung­en wurden –, wenn sie wiederkäme, wie sie schon mehrmals einst gekommen war!

 ??  ?? Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt...
Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt...

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