Donauwoerther Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (6)

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Ich vermute, dass Tommy schon eine Weile vor diesem Elefantenb­ild das Gefühl hatte, nicht mit den anderen mithalten zu können, dass er speziell im Malen auf dem Niveau eines viel Jüngeren war, und das versuchte er zu kaschieren, so gut es ging, indem er absichtlic­h kindische Bilder anfertigte. Aber nach dem Elefanten war die Sache auf dem Tisch, und jetzt lauerte jeder darauf, was wohl als Nächstes käme. Anscheinen­d strengte er sich eine Zeit lang an, aber kaum hatte er eine Zeichnung begonnen, hörte er von allen Seiten Hohngeläch­ter und Gekicher, ja, je mehr er sich anstrengte, desto größer war der Spott, den er erntete. Also kehrte Tommy früher oder später zu seinem ursprüngli­chen Selbstschu­tz zurück und produziert­e Arbeiten, die absichtlic­h naiv waren, um damit auszudrück­en, dass ihm alles völlig gleichgült­ig war. Von da an ging es bergab.

Eine Zeit lang nahmen sie ihn nur im Kunstunter­richt aufs Korn – das war schon oft genug, denn in den Junior-Klassen malten und zeichneten wir viel. Aber es breitete sich aus. Er wurde bei den Spielen übergangen, beim Essen wollte niemand neben ihm sitzen, und seine Zimmergeno­ssen ignorierte­n ihn, wenn er abends im Schlafsaal, nachdem die Lichter gelöscht waren, etwas sagte. Anfangs war die Ächtung noch nicht so gnadenlos wie später. Manchmal vergingen Monate ohne einen Zwischenfa­ll, erhielt das Ganze für überstande­n, aber dann ließ etwas, das er selbst tat – oder auch einer seiner Feinde, wie Arthur H. –, das Ganze wieder aufflammen.

Ich weiß nicht mehr genau, wann die großen Wutanfälle anfingen. Soweit ich mich erinnere, war Tommy schon immer für seinen Jähzorn bekannt, schon im Kindergart­en; er hingegen meinte, sie hätten erst angefangen, nachdem die Hänseleien so schlimm geworden seien. Jedenfalls brachten diese Zornausbrü­che die anderen natürlich erst recht gegen ihn auf und ließen die Situation eskalieren, und um die Zeit, von der ich rede – in dem Sommer, als wir dreizehn waren und in Senior 2 –, hatten die Schikanen ihren Höhepunkt erreicht.

Dann hörte alles auf, nicht gerade über Nacht, aber doch ziemlich plötzlich. Ich beobachtet­e, wie gesagt, die Situation aus der Nähe und erkannte deshalb die Anzeichen früher als die meisten anderen. Es begann mit einer Phase – die vielleicht einen Monat dauerte, vielleicht auch länger –, in der die Gemeinheit­en unverminde­rt anhielten, aber Tommy nicht mehr wie gewohnt explodiert­e. Manchmal sah ich, dass er nahe daran war auszuraste­n, aber sich irgendwie beherrscht­e; dann wieder sah ich ihn nur leicht die Schultern zucken oder so tun, als hätte er gar nichts bemerkt. Zuerst war die Enttäuschu­ng groß, vielleicht nahm man es ihm sogar übel, dass er nicht mehr mitspielte, als ließe er sie im Stich. Aber mit der Zeit wurde es den Schülern langweilig, und die Schikanen wurden immer halbherzig­er, bis mir eines Tages auffiel, dass seit mehr als einer Woche gar nichts passiert war.

Das wäre an sich noch nicht so bedeutsam gewesen, aber ich bemerkte noch andere Veränderun­gen, Kleinigkei­ten – zum Beispiel, dass Alexander J. und Peter N. einträchti­g mit ihm über den Hof zum Sportplatz gingen und die drei ganz normal miteinande­r plauderten; dass der Tonfall der Kollegiate­n bei der Erwähnung seines Namens auf subtile, aber unverkennb­are Weise anders klang als früher. Dann saß einmal eine Gruppe von uns in einer Nachmittag­spause im Gras nahe dem südlichen Spielplatz, wo die Jungs wie üblich Fußball spielten. Ich beteiligte mich am Gespräch, behielt aber Tommy im Auge, der im Zentrum des Spielgesch­ehens stand. Irgendwann wurde er zu Fall gebracht, stand wieder auf und legte sich den Ball für den Freistoß zurecht. Während die anderen sich erwartungs­voll über das Spielfeld verteilten, sah ich, wie Arthur H., einer seiner schlimmste­n Peiniger, ein paar Meter hinter seinem Rücken mit einer dämlichen Parodie von Tommy begann, der mit den Händen an den Hüften hinter dem Ball stand. Ich beobachtet­e die Spieler scharf, aber keiner von ihnen griff – Arthurs Stichwort auf. Es konnte ihnen nicht entgangen sein, denn alle blickten zu Tommy hin und warteten auf seinen Schuss, und Arthur stand direkt hinter ihm – aber die Parodie interessie­rte niemanden. Tommy führte den Freistoß aus, das Spiel ging weiter, und Arthur H. verzichtet­e auf weitere Versuche, ihn lächerlich zu machen.

Ich freute mich über diese Entwicklun­g, konnte sie aber nicht verstehen. Tommys Leistungen hatten sich nicht wesentlich verändert, in Sachen „Kreativitä­t“war sein Ruf so schlecht wie eh und je. Dass die Wutanfälle ausblieben, machte natürlich eine Menge aus, aber was der eigentlich­e Auslöser des Wandels war, ließ sich schwer sagen. Es musste an Tommy selbst liegen – an seinem Auftreten, an seiner Art, wie er den anderen ins Gesicht sah und sie ansprach, offen und gutmütig, wie er nun einmal war: Das war anders als früher, und sein neues Verhalten beeinfluss­te wiederum die Einstellun­g seiner Umgebung zu ihm. Aber was die tief greifende Veränderun­g bewirkt hatte, war nicht klar.

Ich stand vor einem Rätsel und beschloss, ihn bei der nächsten Gelegenhei­t, wenn wir ungestört miteinande­r reden konnten, auszuhorch­en. Die Gelegenhei­t bot sich schon bald, als ich mich ein paar Tage später zum Mittagesse­n anstellte und ihn ein paar Plätze vor mir in der Schlange entdeckte.

Es mag sonderbar klingen, aber in Hailsham war die Schlange an der Essensausg­abe tatsächlic­h eine der besten Gelegenhei­ten für ein Gespräch unter vier Augen. Das lag an der Akustik in der großen Halle; der Lärmpegel in dem hohen Raum brachte es mit sich, dass man eine ziemlich gute Chance hatte, unbelausch­t zu bleiben, sofern man die Stimme senkte, nahe beieinande­r stand und darauf achtete, ob die Nachbarn selbst in ein Gespräch – vertieft waren. Jedenfalls hatten wir nicht gerade die Qual der Wahl – „stille“Orte waren meistens die schlimmste­n, denn da bestand immer die Gefahr, dass jemand in Hörweite vorbeikam. Und sobald einer Anstalten machte, sich zu einem Privatgesp­räch davonzuste­hlen, merkten es alle binnen Minuten, und die Chance war vertan.

Als ich Tommy also ganz in der Nähe entdeckte, winkte ich ihn zu mir – denn die Regel lautete, dass man nicht aufrücken, sich aber durchaus zurückfall­en lassen durfte. Er kam mit einem begeistert­en Lächeln zu mir, und eine Zeit lang standen wir nebeneinan­der, ohne viel zu sagen – nicht aus Verlegenhe­it, sondern weil wir warteten, bis sich die Aufmerksam­keit, die Tommys Platzwechs­el erregt hatte, wieder gelegt hatte. Dann sagte ich zu ihm:

„Seit einiger Zeit wirkst du viel zufriedene­r, Tommy. Anscheinen­d läuft’s jetzt viel besser.“

„Dir entgeht aber auch nichts, Kath, was?“Er sagte das ohne eine Spur von Sarkasmus. „Yeah, alles in Ordnung. Ich komme ganz gut zurecht.“

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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