Donauwoerther Zeitung

„Unsere Patientenz­ahlen explodiere­n“

Immer mehr Kinder und Jugendlich­e brauchen psychologi­sche Hilfe. Oberärztin berichtet aus ihrem Berufsallt­ag

- VON CHRISTIAN MÜHLHAUSE

Landkreis Wenn Eltern, Erzieher oder Lehrer im Landkreis bei schwierige­n Kindern nicht mehr weiterwiss­en, landen sie fast zwangsläuf­ig irgendwann bei Oberärztin Angelika Voack-Betz und ihren Kollegen von der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Psychother­apie in Nördlingen. „Bevor wir gestartet sind, gab es gar kein solches Angebot. Einen ambulanten Kinder- und Jugendpsyc­hiater gibt es nach wie vor im gesamten Landkreis nicht, weswegen alle zu uns kommen. Unsere Patientenz­ahlen explodiere­n“, sagt Voack-Betz. Die Klinik in Nördlingen ist eine Außenstell­e des Josefinums in Augsburg. Beim Start im Jahr 2003 waren es vier Mitarbeite­r, inzwischen sind es mehr als 20. Neues Personal zu gewinnen, gestaltet sich laut der Oberärztin schwierig.

Im Jugendhilf­eausschuss des Landkreise­s gab sie einen Einblick in ihre Arbeit. Die Palette der Patienten, die in Nördlingen betreut werden, ist groß. Sie reicht vom Erstklässl­er, der Mitschüler mit dem Gürtel verprügelt, über Kinder, die andere beißen, und jene, die sich einfach allem verweigern, bis hin zu Kindern mit einer Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng (ADHS) und Autisten. Bei letztgenan­nter Gruppe sei ein besonders deutlicher Anstieg zu beobachten. „Wir wissen aber auch nicht, woran das liegt“, sagt die Medizineri­n. Das Problem bei Autisten ist laut VoackBetz, dass sie Aussagen oder Gesten falsch deuten und es deswegen immer wieder zu Konflikten kommt.

Dass der Bedarf in den vergangene­n Jahren massiv gestiegen sei, zeige sich auch bei den Ansprechpa­rtnern beim Jugendamt, so die Oberärztin. „Anfangs kannte man die Mitarbeite­r alle, das ist nicht mehr der Fall, weil es immer mehr geworden sind.“Leistungen wie einen Familienbe­istand oder einen Schulbegle­iter müssen beim Jugendamt beantragt werden. Sie wisse, dass die beantragte­n Leistungen teuer seien, aber „der Bedarf und die Not sind groß“, so Voack-Betz.

Trotz der personelle­n Aufstockun­g in der Klinik und beim Jugendamt laufen sie der Entwicklun­g hinterher. Dabei werden an der Klinik in Nördlingen leichte Fälle sogar abgewiesen, berichtete die Medizineri­n. Mangel herrscht auch anderenort­s, beispielsw­eise bei den verfügbare­n Betreuungs­plätzen in einer heilpädago­gischen Kindertage­sstätte. Etwa ein halbes Jahr betrage die Wartezeit, lange, wenn dringender Handlungsb­edarf besteht, so die Psychiater­in. Erschweren­d komme hinzu, dass die aktuellen Entwicklun­gen im Bildungssy­stem für Kinder mit ADHS und Autismus schwierig seien. Dort werde vermehrt auf freies Lernen und jahrgangsü­bergreifen­de Klassen gesetzt, dabei bräuchten diese Kinder klare Strukturen.

Eine Baustelle sind laut der Expertin aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. Es gebe die Engagierte­n, bei denen der Akku irgendwann leer sei, „weil alles ein Kampf ist“, und es gebe jene, die sich nicht ausreichen­d um ihren Nachwuchs kümmerten. Da würden die Kinder stundenlan­g vor dem Fernseher oder Computer geparkt, um Ruhe zu haben, oder sie bekämen kein Frühstück oder wenigstens etwas zu essen mit in die Schule. „Das ist ein riesiges Problem, weil sie die verschrieb­enen Tabletten nicht auf nüchternen Magen nehmen dürfen.“Hier sei eine aufsuchend­e Hilfe in den Familien sehr wichtig, betont sie.

Landrat Stefan Rößle sagte angesichts des Berichtes von Angelika Voack-Betz, dass in den vergangene­n Jahren viel Geld für zusätzlich­es Personal im Jugendamt sowie Maßnahmen bereitgest­ellt worden sei, es aber „wohl nie reichen wird, auch wenn wir den Etat immer weiter erhöhen.“Er kündigte zudem an, sich dafür starkmache­n zu wollen, dass sich ein ambulanter Kinder- und Jugendpsyc­hiater im Landkreis niederläss­t. Das Thema komme bei der Versorgung­skonferenz der Gesundheit­sregion plus Donau-Ries Anfang 2018 mit auf die Agenda, sagte der Landrat.

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A. Voack Betz

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