Wie gefährlich ist Big Data?
Mächtige Algorithmen und die vernetzte Auswertung gigantischer Datenmassen verändern rasant unser Leben und unsere Privatsphäre. Der Ethikexperte Anton Losinger erklärt, wie wir mit den neuen Herausforderungen umgehen sollten
Herr Losinger, Big Data bestimmt immer mehr unser Leben: Die vollautomatische Auswertung gigantischer Datenmengen mit Computer-Algorithmen revolutioniert die Wirtschaft und unseren Alltag. Zugleich bedroht sie unsere Privatsphäre: Menschen werden gläsern, berechenbar und manipulierbar. Sie haben sich mit anderen Ethik-Experten intensiv mit den Risiken auseinandergesetzt. Wie dramatisch wird Big Data die Welt verändern? Losinger: Unser ganzes Leben wird mehr und mehr durch digitale Verfahren bestimmt. Ich würde sagen, selbst das Automobil hat die Welt deutlich weniger stark beeinflusst, als es Big Data heute schon tut und in Zukunft tun wird. Die Stichworte beschreiben im Prinzip sämtliche Lebensbereiche: Arbeit 4.0, Industrie 4.0, Bildung 4.0 – bis hin zu all den Alltagsbereichen, wo Menschen sich selbstverständlich mit digitaler Technik umgeben und durch sie leiten und unterstützen lassen. Kaum jemand läuft heute mehr ohne ein Smartphone durch die Welt.
Wer werden die Gewinner sein und wer die Verlierer?
Losinger: Die Problematik kann man heute im digitalen Kommunikationsverhalten junger Menschen bereits beobachten: Wer stets eine riesige Datenspur hinter sich herzieht und zum Teil sein gesamtes Leben preisgibt, wird durchsichtig und angreifbar. Das Netz vergisst nichts! Was auf der einen Seite eine praktische und wichtige technische Hilfe ist, kann von anderen natürlich auch gegen einen Menschen verwendet werden. Während sich durch die digitale Welt zum Beispiel in der Medizin ganz neue Möglichkeiten auftun, steht auf der anderen Seite der gläserne Patient mit all den Folgen für den Einzelnen. Menschen werden in ihren intimsten Bereichen beinahe vollständig transparent. digitaler Transparenz des Patienten und damit der missbräuchlichen Verwendung der Gesundheitsdaten, sollten diese in die Hände von Biotech-Firmen und Silicon ValleyUnternehmen geraten und ausgebeutet werden. Aber nicht zuletzt seit dem US-Wahlkampf gibt es eine Debatte, dass digitale Bewertungsverfahren gefährlich sein können, insbesondere wenn sie nicht nur kommerzielle, sondern soziale oder politische Ziele verfolgen. Ist diese Sorge berechtigt?
Losinger: Krimifans wissen, dass Fahndungen bereits durch solche Algorithmen gesteuert werden können, Stichwort Profiling. Da werden Täterprofile und Analysen gemacht, die auch eine Vorhersage von Verbrechen ermöglichen. Dies kann man sehr leicht in das politische Interessenfeld übertragen. Das Phänomen „Fake News“und die Steuerung, Desinformation und Instrumentalisierung von Wählern ist gerade in der neuesten Geschichte der politischen Willensbildungsprozesse eine problematische Entwicklung. nem zweieinhalbjährigen Prozess befasst und jetzt dazu einen klugen Vorschlag gemacht. Er lautet Datensouveränität. Das heißt, es muss jedem einzelnen Menschen rechtlich die freiheitliche Gestaltung und Hoheit über seine Daten zugestanden und garantiert werden. Dazu müssen die Menschen zunächst einmal die Potenziale der Digitalisierung klar und bewusst erkennen, realisieren und einen datensparsamen und folgenbewussten Umgang lernen.
Die meisten Menschen sind sich gar nicht bewusst, welche Unmengen an Datenspuren sie hinterlassen ... Losinger: Da sind wir beim zweiten Punkt – der Sicherung der individuellen Freiheit und informationellen Selbstbestimmung. So wird künftig zum Beispiel etwa beim autonomen Autofahren zwischen personenbezogenenund fahrzeugbezogenen Daten unterschieden werden. Die einen unterliegen der Privatheit, die anderen unterliegen dem System und gehören dem Autounternehmen. Auch einen dritten Vorschlag macht der Ethikrat: Gerechtigkeit und Solidarität. Das heißt etwa, dass Menschen mit digital diagnostizierten Erkrankungen, zum Beispiel genetischen Deformationen, keine sozialen Nachteile in ihrer Versorgung und Entfaltungsmöglichkeit erfahren dürfen. Das bedeutet: Keine Diskriminierung beim Abschluss einer Kranken- oder Lebensversicherung! Auch nicht bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz.
Ist solcher Datenschutz realistisch und politisch noch durchsetzbar? Lässt sich die digitale Büchse der Pandora noch einmal schließen?
Losinger: Die Büchse der Pandora ist offen. Nun ist es die Pflicht eines freiheitlichen demokratischen und sozialen Rechtsstaates, Regeln zu setzen. Solche solidarischen Strukturen
„Selbst das Automobil hat die Welt deutlich weniger stark beeinflusst, als es Big Data heute schon tut.“Weihbischof Anton Losinger
gibt es bereits in vielen Bereichen. Ich denke nur an das Arbeitsrecht, das eine Reihe von möglichen Nachteilen nicht wirksam werden lässt, zum Beispiel die Schwangerschaftsangabe einer Frau.
Google ist die Vorhersage der Ausbreitung einer Grippeepidemie durch die Auswertung von Suchanfragen gelungen. Google, Amazon, Facebook – sind das die Unternehmen der Zukunft? Losinger: Ja. Die Data Miner, die digitalen Goldgräber, sind die heute am höchsten bewerteten Unternehmen. Die großen klassischen Unternehmen können da nicht mehr mithalten. Wer den Algorithmus hat, bestimmt, wohin der Zug fährt.
Lassen sich solche weltweit operierenden Mega-Unternehmen von der Politik überhaupt noch kontrollieren? Losinger: Das wird in der Tat herausfordernd. Doch staatliche Organe müssen heute mit hohem Tempo handeln, weltweit denken und globale Regelungen treffen, die Freiheit und Gerechtigkeit garantieren.
OZur Person Der katholische Augsbur ger Weihbischof Anton Losinger, 60, war von 2005 bis 2016 Mitglied des Deut schen Ethikrates und ist mit mehreren Wissenschaftspreisen ausgezeichnet.