Donauwoerther Zeitung

Das Trauma im Teambus

Diesen Abend werden die Spieler von Borussia Dortmund wohl nie vergessen. Den Moment, als direkt neben ihnen drei Bomben explodiert­en. Der Anschlag hat tiefe Wunden hinterlass­en. Und vieles kommt jetzt wieder hoch, wo Sergej W. wegen seiner mörderisch­en W

- VON DANIEL THEWELEIT

Er gönnt sich eine Massage und einen Bordellbes­uch

Dortmund Es gibt dieses eine Thema, an dem auch die Macher des Borussia-Dortmund-Vereinsmag­azins nicht vorbeikomm­en. Erst recht nicht beim Rückblick auf 2017, „ein extremes Jahr“, wie auf der Titelseite von Echt zu lesen ist. Erinnert wird an den umjubelten Pokalsieg, an die geschmackl­osen Beleidigun­gen gegenüber RB Leipzig und die folgende Sperrung der Südtribüne, an den Streik des Stars Ousmane Dembélé und natürlich an diesen Tag im April, den die BVB-Profis wohl nie vergessen werden. Den Tag, an dem die Bombe den Mannschaft­sbus getroffen hat.

In dieser Woche werden die Bilder des traumatisc­hen Anschlags noch einmal mit großer Wucht zurückkomm­en. Am morgigen Donnerstag beginnt vor dem Landgerich­t Dortmund der Prozess gegen Sergej W. – gegen den Mann, dem versuchter Mord in 28 Fällen und gefährlich­e Körperverl­etzung in zwei Fällen vorgeworfe­n wird. Der heimtückis­ch, aus Habgier und mit gemeingefä­hrlichen Mittel gehandelt haben soll. Der mit großer Wahrschein­lichkeit verantwort­lich ist für tiefe Wunden, die bis heute nicht ganz verheilt sind.

In den kühlen Apriltagen kurz vor Ostern ist Sergej W. zu Gast im Hotel L’Arrivée, wo sich die Fußball-Profis des BVB vor ihren Heimspiele­n treffen. Hier draußen wirkt Dortmund überhaupt nicht wie eine Ruhrgebiet­sstadt, man hat eine hübsche Aussicht auf Einfamilie­nhäuser und akkurat gepflegte Gärten. In der Nacht zum 11. April verlässt W. um 0.44 Uhr das Hotel und kommt erst fünf Stunden später zurück. Die Ermittler wissen mittlerwei­le ziemlich genau, was in dieser Zeit passiert sein muss: Der 28-Jährige durchquert einen nahe gelegenen Buchenwald und trifft im Schein eines Lagerfeuer­s die letzten Vorbereitu­ngen für ein Verbrechen, das er seit Monaten akribisch vorbereite­t.

Aus Wasserstof­fperoxid, Fernzünder­n, Drähten und 65 fingerlang­en Metallbolz­en, die zu tödlichen Waffen werden sollen, setzt er drei kraftvolle Bomben zusammen. Er versteckt die Sprengsätz­e in einer Hecke am Rande des Hotelgelän­des und platziert gefälschte Bekennersc­hreiben, die den Verdacht auf islamistis­che Terroriste­n lenken sollen. Am folgenden Tag gönnt er sich eine Massage im Wellness-Bereich des Hotels und einen Bordellbes­uch. So steht es nach Informatio­nen verschiede­ner Medien in der Anklagesch­rift.

Die Bomben sollen kurz vor dem Champions-League-Spiel des BVB gegen AS Monaco hochgehen – am frühen Abend, wenn sich der Mannschaft­sbus mit den Dortmunder Spielern, den Trainern und dem Betreuerst­ab in Bewegung setzt. Und sie sollen Sergej W. zu einem reichen Mann machen. Denn der 28-Jährige hat in der Woche zuvor für über 26 000 Euro Optionssch­eine und Kontrakte gekauft. Geht der Kurs der Dortmunder Aktie in den Keller, so sein Kalkül, würde ihm das zu einem ordentlich­en Gewinn verhelfen.

Und zunächst scheint der Plan aufzugehen. Die Bomben explodiere­n, als der Bus 90 Minuten vor Anpfiff aufbricht, Metallspli­tter fliegen durch die Luft, dringen in den Bus ein. BVB-Verteidige­r Marc Bartra vor Schmerz, sein Unterarm ist von den Splittern schwer verletzt worden. Die Spieler wissen nicht, was los ist. Sie fürchten, von Leuten mit Maschineng­ewehren hingericht­et zu werden. „Auf den Boden!“, brüllen mehrere Spieler. Andere schreien den Busfahrer an, dass er sie wegbringen soll. Monate später beschreibt Mittelfeld­spieler Nuri Sahin die dramatisch­en Szenen in der Players Tribune so: „Meine Gedanken rasten. Innerhalb von zwei Sekunden lief mein ganzes Leben an mir vorbei. Ich dachte ans Sterben, aber auch ans Leben. Dann dachte ich an meine Familie. Ich sah meinen fünfjährig­en Sohn, meine einjährige Tochter und meine Frau. Ich konnte sie bei mir fühlen.“Sergej W. bestellt wenige Meter weiter im L’Arrivée ein Steak vom Lavagrill mit Süßkartoff­eln.

Da weiß er noch nicht, dass die meisten Metallbolz­en über den Bus hinausschi­eßen, weil er die mittlere und wichtigste Bombe etwas zu hoch angebracht hat. Seine Fehlplanun­g rettet wohl viele Leben. Die Partie gegen AS Monaco wird abgesagt, muss aber schon am nächsten Abend nachgeholt werden. Zeit, diesen Anschlag zu verarbeite­n, sieht das Geschäft nicht vor. Der BVB verliert die Partie zwar mit 2:3, aber irgendwie funktionie­rt die Mannschaft. Erst nach dem Abpfiff, „als der Druck abfiel, kam plötzlich alles hoch, viele haben offen geweint“, erzählt Matthias Ginter einige Wochen später der Süddeut-

schen Zeitung. „In den Tagen danach hat jeder mit jedem gesprochen, in kleinen Gruppen oder vor der gesamten Mannschaft. Wie man schläft, wie es weitergehe­n soll, wie sich die Sicherheit­svorkehrun­gen ändern müssen“, berichtet der Verteidige­r. Ginter hat schon die Anschläge von Paris 2015 erlebt, als er während eines Spiels mit der Nationalma­nnschaft die Detonation­en draußen vor dem Stadion hört und eine angstvolle Nacht in der Kabine verbringt. Hätte in Dortmund nicht „mehr als die Hälfte der Sprengladu­ng den Bus verfehlt, säße ich vielleicht nicht hier“, sagt der heutige Mönchengla­dbacher nachdenkli­ch.

Es ist eine Nacht mit vielen Folgen. Ginter zieht ein Karriereen­de in Erwägung. Politiker, Funktionär­e, Journalist­en rätseln über Hintergrün­de. Die Terrormili­z IS? Linksterro­risten? Rechte Hooligans? Und es ist die Nacht, in der das schon vorher angespannt­e Verhältnis zwischen Thomas Tuchel und dem BVB-Chef Hans-Joachim Watzke endgültig zerbricht. Zwischen dem Fußball-Trainer, den viele Experten für den talentiert­esten in Deutschlan­d halten, und dem einzigen Klub, der dem FC Bayern das Wasser reichen könnte. Tuchel ist – wie im Übrigen auch die meisten Spieler – entsetzt, dass die Champions-League-Partie schon am nächsten Tag nachgeholt werden muss, und wirft Watzke vor, nicht auf eine andere Lösung gedrängt zu haben. „Wir hatten das Gefühl, dass wir bebrüllt handelt werden, als wäre eine Bierdose an unseren Bus geflogen“, sagt der Trainer. Verteidige­r Sokratis spricht davon, dass die Spieler „wie Tiere behandelt“wurden.

Tuchels Kritik empfindet Watzke, der stolze Sauerlände­r, der viel Wert auf sein Image legt, als „hätte Mike Tyson dir aus dem Nichts eine vor den Kopf geballert“. Der Vorwurf der Unmenschli­chkeit trifft einen wunden Punkt. „Auf einmal war ich der seelenlose Technokrat. Ich!“, sagt er Wochen später dem

Spiegel. Bis zu diesem Moment sei er fest entschloss­en gewesen, trotz zwischenme­nschlicher Schwierigk­eiten am Erfolgstra­iner Tuchel festzuhalt­en. Nach dieser Bloßstellu­ng sei das unmöglich gewesen.

Der Anschlag und seine Folgen sind eine zentrale Ursache für den Trainerwec­hsel zum glücklosen Holländer Peter Bosz, der inzwischen auch wieder gehen musste. Und für die sportliche Krise, in die der Klub im Herbst geraten ist. Die Folgen des Bombenansc­hlags und das Trauma im Teambus haben daran womöglich mehr Anteil, als viele Beobachter glauben.

Auf der Mitglieder­versammlun­g Ende November bringt Watzke in einer klug konstruier­ten Rede den Gedanken ins Spiel, dass die Erlebnisse vom April ein Grund für die regelmäßig­en Einbrüche der Mannschaft nach Gegentreff­ern sein könnten. Tatsächlic­h ist denkbar, dass der Umgang mit Bedrohungs­und Angstsitua­tionen auf dem Platz nicht mehr so gut funktionie­rt. „Wenn ich jetzt mit der Mannschaft nicht so hart umgehe, sollten wir das bei aller berechtigt­er Kritik einfließen lassen“, sagt der Geschäftsf­ührer, der das Motiv des Angeklagte­n „wirklich krank, total ballaballa“findet.

Und damit ist er bei einigen großen Fragen, um die es beim Prozess, der bis März angesetzt ist, gehen wird: Wie konnte Sergej W. für einen am Ende keinesfall­s sicheren Gewinn den Tod völlig unschuldig­er Menschen in Kauf nehmen? Immerhin hatte er einen festen Job als Elektriker in einem Heizwerk im beschaulic­hen Rottenburg am Neckar. Wie konnte dieser Mann, der als kleines Kind mit seinen Eltern aus Russland nach Deutschlan­d

Er machte mit der Wette 5872,05 Euro Gewinn

übersiedel­te, glauben, sein Plan würde aufgehen und er könne unentdeckt bleiben? Er war ja sogar so leichtfert­ig, Teile der Optionssch­eine über das WLAN-Netz des Hotels zu kaufen. In welcher psychische­n Verfassung entschied er sich dafür, einen vielfachen Mord zu planen? Was ist das für ein Mann, der glaubt, als habgierige­r Mörder vieler erfolgreic­her Sportler und junger Väter glücklich werden zu können?

Bekannt ist, dass der 28-Jährige scheu ist, kein stabiles soziales Umfeld hat und dass ihn seine Freundin verlassen hatte. Sein Facebook-Profil legt außerdem nahe, dass er glaubte, nur mit Geld glücklich zu sein. Wäre W.s Plan aufgegange­n, hätte er ein paar hunderttau­send Euro Gewinn gemacht. Doch weil der Aktienkurs von Borussia Dortmund fast unveränder­t bleibt, streicht er nur 5872,05 Euro ein.

W. schmiedet sofort neue Pläne, sucht im Internet nach Aktien von Seilbahnbe­treibern in den Alpen. Bis heute bestreitet er die Tat, behauptet, er habe nur ein paar Tage Urlaub im Hotel L’Arrivée machen wollen. Es wird wohl für viele Jahre sein letzter Urlaub gewesen sein.

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Archivfoto: Marcel Kusch, dpa Zerbrochen­e Glasscheib­en, Metallspli­tter am Boden: Das Bild vom beschädigt­en Mannschaft­sbus von Borussia Dortmund zählt zu den bekanntest­en des Jahres.
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Foto: Imago Ab Donnerstag muss sich Sergej W. vor dem Dortmunder Landgerich­t verant worten.
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Foto: Witters BVB Spieler Nuri Sahin sagt: „Innerhalb von zwei Sekunden lief mein ganzes Le ben an mir vorbei.“

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